Für Journalisten liegt die Sache auf der Hand: Wer führt, entscheidet. Wer entscheidet, führt. Deshalb benutzen Wirtschaftsjournalisten das Wort "Entscheider" gern als Synonym für Top-Managerin oder Führungskraft. Aber stimmt das auch? Sind Entscheidungen wirklich Ausdruck von Führung? Und muss, wer eine Führungsaufgabe innehat, zwingend auch entscheiden? Die Sache ist verzwickt, allgegenwärtig und brisant. Daher diese Kolumne.
Wann es Führung und Entscheidung braucht – und wann nicht
Dass zu entscheiden immer auch bedeutet zu führen, liegt auf der Hand. Denn sowohl entscheiden wie auch führen heißt, mit Ungewissheit umzugehen und eine Richtung einzuschlagen, die nicht ohne Alternativen gewesen wäre. Wenn alles wie am Schnürchen läuft und keine kniffligen Fragen zu beantworten sind, brauchen Menschen keine Führung und Sachverhalte keine Entscheidung. Checklisten, Handbücher und Routinen tun es auch.
Doch bei Fragen wie diesen gilt das sicher nicht: Brauchen wir angesichts der unzureichenden Impfquote eine allgemeine Impflicht? Soll Nord Stream 2 ans Netz gehen? Soll unser Unternehmen wirklich in den umkämpften neuen Markt eintreten? Lohnt es, dass wir in diese noch unausgereifte Zukunftstechnologie einsteigen? Die Antwort darauf fällt nie leicht und die Folgen, die eine Entscheidung für oder gegen eine Option nach sich zieht, sind nie vollständig vorherzusehen.
"Der #Alleinentscheider hat ausgedient. Es zählt, wie gut und richtig die Entscheidung ist, nicht wer sie trifft." – Randolf Jessl
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Wann erweisen sich Entscheidungen als richtig?
In Unsicherheit voranzugehen und die Verantwortung zu übernehmen, das ist Führung. Allerdings sollten wir als Führungsaufgabe dabei eher definieren, eine Entscheidung herbeizuführen, als sie zwingend selbst zu treffen. Denn der Alleinentscheider hat ausgedient. Es zählt, wie gut und richtig die Entscheidung ist, nicht wer sie trifft.
Als richtig erweist sich eine Entscheidung, wenn der beabsichtigte Zweck der Entscheidung auch erreicht wird. Das klingt banal. Aber gerade den Zweck einer Entscheidung glasklar zu benennen, wird häufig unzureichend betrieben. Hinter der Frage "Markteintritt: ja oder nein?" können Zwecke stehen wie zum Beispiel Wettbewerber in Schach halten, Umsatzquellen erschließen etc., die sich auch durch andere Maßnahmen erreichen ließen als den Markteintritt.
Es gilt daher bei jeder Entscheidung, blinde Flecken aller Art optimal zu schließen. Andere in Entscheidungsprozesse einzubeziehen, die Wissen und Perspektiven addieren, ist immer eine gute Wahl. Und die einsame Entscheidung gehört eigentlich verboten.
Wer trifft die Entscheidung?
Die Managementforscher Robert Tannenbaum und Warren H. Schmidt haben bereits in den 1950er Jahren Alternativen zum Alleinentscheid der Führungskraft aufgezeigt. Sie reichen von der Konsultation bis hin zum Alleinentscheid einer Gruppe ganz ohne Einmischung der Führungskraft. Der Managementtrainer Jurgen Appelo hat sie unter dem Namen "delegation poker" für die praktische Arbeit in Gruppen als Kartenspiel aufbereitet. Hier einigen sich Menschen, die eine Entscheidung treffen und dann auch umsetzen müssen, wie das geschieht. Aus Sicht der offiziellen Führungskraft sind es diese sieben Abstufungen:
- Verkünden: Ich entscheide und teile der Gruppe meine Entscheidung mit.
- Verkaufen: Ich entscheide und versuche die Gruppe von der Richtigkeit meiner Entscheidung zu überzeugen.
- Befragen: Ich hole mir vor meiner Entscheidung den Rat der Gruppe.
- Einigen: Wir diskutieren unsere Lösungen und finden einen Konsens.
- Beraten: Ich unterstütze die Gruppe darin, selbst zu entscheiden.
- Erkundigen: Ich lasse die Gruppe entscheiden und mich über den Ausgang informieren.
- Delegieren: Ich mische mich in keinster Weise ein und bleibe außen vor.
Aus den genannten Gründen sollte es daher eine Selbstverständlichkeit sein, dass alle, die Handlungsbedarf in einer Sache erkennen, Entscheidungen einfordern und herbeiführen – unabhängig davon, ob die konkrete Person eine Führungsaufgabe innehat oder nicht.
Entscheidungen werden dann eher mitgetragen, wenn ihre Erfolgsaussichten als gut und realistisch eingeschätzt und ihre Folgen als fair empfunden werden." – Randolf Jessl
Unter welchen Bedingungen werden Entscheidungen mitgetragen?
An diesem Punkt zeigt sich ein weiterer Aspekt, warum in Entscheidungsprozessen auch Führung steckt. Schließlich geht es meist auch darum, Menschen für die Entscheidung zu gewinnen und zum Umsetzen der mit ihr verbundenen Maßnahmen zu bewegen.
Hierbei gilt: Entscheidungen werden dann eher mitgetragen, wenn
- ihre Erfolgsaussichten als gut und realistisch eingeschätzt werden,
- ihre Folgen als fair empfunden werden (hier unterscheidet die Forschung "distributive Fairness", bei der Nutzen und Kosten der Entscheidung für einen selbst als angemessen verteilt wahrgenommen werden, und "prozedurale Fairness", bei der diese Kosten-Nutzen-Bilanz für die Beteiligten zwar ungünstig ausfällt, aber immerhin der Weg zur Erreichung der Ziele als fair und transparent wahrgenommen wird) und
- man am Zustandekommen der Entscheidung beteiligt war und Einfluss nehmen konnte ("Betroffene zu Beteiligten machen").
Wer im Prozess, eine Entscheidung herbeizuführen, diese Aspekte berücksichtigt, steigert die Wahrscheinlichkeit, dass eine gute Entscheidung getroffen und erfolgreich umgesetzt wird. Verantworten sollten eine Entscheidung immer alle, die zu ihr beitragen konnten – auch wenn die klassische Governance-Praxis hier meist nur die formale Führungskraft im Blick hat. Das stärkt zum einen die Ernsthaftigkeit, mit der mögliche Entscheidungsalternativen diskutiert werden. Zum anderen steigert es das Commitment bei der Umsetzung der Entscheidung. Auf beides kommt es in unserer unübersichtlichen, schnell drehenden Welt an.
Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations - und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen und Organisationen, die etwas bewegen und in Führung gehen wollen.