Die Frage, die ich meiner heutigen Kolumne voranstelle, mag verstörend wirken: Soll und kann man Führung regeln? Entweder sagen Sie darauf: Das tun wir doch mit unseren Führungsleitlinien schon lange! Oder Sie erwidern: Was soll der Quatsch, unsere Vorgesetzten leben jeden Tag Führung, da gibt es nichts zu regeln!
Beide Antworten sind plausibel und entsprechen der Praxis in der Mehrzahl unserer Unternehmen. Doch beide Antworten tragen nicht, wenn wir zwei aktuelle Entwicklungen in unsere Überlegungen einbeziehen. Erstens: Der Trend zu virtueller Zusammenarbeit infolge neuer hybrider Arbeitswelten. Zweitens: Der Trend, Führung und Führungsaufgaben zunehmend in Teams rollieren zu lassen oder auf mehrere Personen zu verteilen ("shared leadership"). (Lesetipp: Alternativen zur One-Man-Show).
Geteilte und virtuelle Führung brauchen Regeln
Beide Trends gehen zudem oft Hand in Hand. Aus neueren Studien wissen wir, dass bei virtueller Zusammenarbeit häufig der Selbstorganisationsgrad steigt und sich neue Führungspraktiken herausbilden. Traditionelle, direktive Führung wie auch die viel gelobte transformationale, auf Charisma und Präsenz basierende Führung haben im virtuellen Raum weniger Relevanz und Entfaltungsmöglichkeit.
Daher muss die Antwort auf die Eingangsfrage in einer auf virtueller Zusammenarbeit und zunehmend geteilter Führung basierenden Arbeitswelt eigentlich lauten: In diesem Kontext muss man Führung reflektieren und regeln! Und das beginnt damit, dass sich alle darüber verständigen, was eigentlich führen und folgen in ihrem Kontext heißt und wie sie das in ihrem Team gestalten wollen.
Was heißt es eigentlich zu führen und zu folgen?
Die erste und wichtigste Einsicht ist: Führen heißt, mit Ideen und Vorschlägen vorangehen, andere zum Mitmachen gewinnen, Verantwortung übernehmen und Entscheidungen herbeiführen. Und jede und jeder ist aufgefordert, genau das zu tun. Folgen wiederum heißt, mit eigenem Kopf und vollem Einsatz an der Erledigung der notwendigen und verabredeten Aufgaben mitwirken – und zu wissen, wann es Zeit ist, selbst die Führung zu übernehmen: weil man an diesem Punkt das bessere Wissen, mehr Erfahrung, die entscheidenden Ideen, die größte Leidenschaft hat.
Führen und Folgen sind auf diese Weise ein Prozess, der Regeln braucht, damit er funktioniert und alle sich gut einbringen können. Wird dagegen in klassischen Vorgesetztenfunktionen geführt, sind diese Regeln oft unausgesprochen im Raum (die Chefin hat das letzte Wort, der Chef regelt das, die Vorgesetzte trägt die Verantwortung – und all das im Rahmen der Werte und Verhaltensweisen, die das Führungsleitbild vorgibt).
Das hilfreiche Instrument der Team-Charta
Um den Prozess dieser Klärung in Teams, wo formale Führung nicht den Ausschlag gibt, transparent und konstruktiv zu gestalten, greifen fortschrittliche Unternehmen gerne auf das Instrument des Teamvertrags zurück, das auch Team-Charta oder Team-Codex genannt wird. Auch wenn es fast bürokratisch anmutet, ein solches Schriftstück zu verfassen, ermöglicht die Arbeit daran doch, als Team die Grundlage für effektives Führen und Folgen zu legen. Auch werden Konflikte und Missverständnisse dadurch im Vorfeld der Zusammenarbeit minimiert.
Eine solche Team-Charta sollte zweierlei kombinieren: Werte und Ideale des Führens und Folgens sowie praktische Regeln der Zusammenarbeit und des Führungwechsels. Beides sollte möglichst nicht abstrakt beschrieben, sondern mit konkreten Verhaltensweisen hinterlegt werden. Als Leitplanke, was eine Team-Charta regelt, können die fünf Kriterien dienen, die laut einer umfassenden Erhebung von Google im Projekt "Aristotle" die perfekte Zusammenarbeit in Teams ausmacht. Diese sind:
- Psychologische Sicherheit: Wir stellen uns so auf, dass niemand Angst davor haben muss, Risiken einzugehen, Kritik zu äußern, Fehler einzugestehen.
- Verlässlichkeit: Wir stellen uns so auf, dass alle darauf vertrauen können, dass Aufgaben termingerecht und gut erledigt werden.
- Struktur und Klarheit: Wir stellen uns so auf, dass alle wissen, wer was macht, wer welche Verantwortung trägt, worum es geht, wie wir die Dinge anpacken.
- Sinn und Bedeutung: Wir stellen uns so auf, dass man sich und seine Stärken bestmöglich einbringen kann.
- Selbstwirksamkeit: Wir stellen uns so auf, dass man mit dem, was man tut, etwas bewirkt und die gemeinsame Sache voranbringt.
Bei verteilter Führung sind zudem Absprachen und Regeln zu folgenden Aspekten nötig:
- Wie geht man bei uns in Führung, ohne sich vordrängen zu müssen? Was sind bei uns die Kriterien, um für die (temporäre) Führungsrolle in Betracht zu kommen?
- Wie und wann wird es bei uns Zeit, die Führung zu wechseln und wie bewerkstelligen wir das wertschätzend?
- Wie wollen wir unter welchen Bedingungen entscheiden?
- Wie geben wir Feedback und lösen Konflikte, wann und wie eskalieren wir?
- Was bedeutet es, bei uns Verantwortung zu übernehmen, und worauf kommt es im Zusammenspiel mit Vorgesetzten an, die meist die Verantwortung formal tragen?
Gerade in virtuellen Teams kommen dann noch ganz praktische Fragen hinzu, die geregelt werden müssen. Hier geht es um Dinge wie:
- Welche Erreichbarkeit erwarten wir, wenn wir nur noch digital kommunizieren?
- Welche Medien nutzen wir in welchen Kontexten?
- Wie legen wir Dokumente ab?
- Wie gestalten wir Feedbackprozesse?
- Wie integrieren wir den Spaß, den uns das Büro brachte, in unsere virtuelle Zusammenarbeit?
All das sind Fragen, die über den Erfolg von Teamarbeit entscheiden. Sie alle tangieren das Führen und Folgen und brauchen tragfähige Absprachen. Im Reden und Aufschreiben kann dabei mehr Zusammenhalt und Vertrauen unter den Teammitgliedern entstehen als in einer Welt, in der die oder der Vorgesetzte tagtäglich an unausgesprochenen Erwartungen und unreflektierten Praktiken mit entnervten Untergebenen herumlaboriert.
Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations - und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen und Organisationen, die etwas bewegen und in Führung gehen wollen.