Unlängst fiel mir eine Fallstudie aus der Personalarbeit des Jahres 1974 in die Hand. "Willy" (Brandt) war damals noch Bundeskanzler. Die Gewerkschaften setzten zweistellige Lohnsteigerungen durch, jedes Jahr. Die Erfindungen "HR Business Partner" und "War for Talent" standen noch fast ein Vierteljahrhundert aus.
Fallstudie zu Karrierethemen aus den 70ern
Bereits damals standen Karrierethemen auf der Agenda von HR-Publikationen. Hier nun die Fallstudie im fast ungekürzten Wortlaut:
"Berthold Bauer, Ing. grad., 33 Jahre, verheiratet, zwei Kinder (drei und zwei Jahre), ist Koordinator in einem Entwicklungsprojekt, das von seiner Firma zusammen mit zwei US-Firmen bearbeitet wird. Herr Bauer ist seit fünf Jahren Firmenangehöriger. Vor einem halben Jahr wurde ihm seine jetzige Aufgabe übertragen. Er hat die Aussicht, Mitte nächsten Jahres Projektleiter zu werden. Dafür wurde ihm die Teilnahme an einem 18-tägigen betriebsinternen Managementseminar ermöglicht. Er nimmt außerdem an einem betriebswirtschaftlichen Fernstudium teil.
Herr Bauer muss öfter Überstunden machen und nimmt auch Arbeit mit nach Hause. Er muss außerdem viel reisen, insbesondere ins Ausland. Soeben ist eine dreiwöchige Reise in die USA notwendig geworden bis kurz vor Weihnachten.
Acht Tage vor dem Abreisetermin besucht Herr Bauer seinen Personalleiter und bittet ihn um Rat. Seine Frau habe ihm den Vorwurf gemacht, dass er für sie und vor allem für die Kinder seit langem keine Zeit mehr habe. Mit dieser Reise während der Adventszeit sei das Maß voll, sie mache das nicht länger mit, er müsse sich jetzt entscheiden, was ihm wichtiger sei, sein Beruf oder seine Familie."
Lösung der Fallstudie: Personaler in der Rolle des Retters
Die Lösung der aus der Realität entlehnten Fallstudie war offenbar überzeugend: „Der Personalleiter sprach auf Bitte beider mit Ehefrau und Mitarbeiter. Es gelang ihm einen partnerschaftlichen Dialog zwischen den Eheleuten zu initiieren, mit gutem Erfolg. Die Familie zählt inzwischen fünf Mitglieder und Herr Bauer ist in der Geschäftsführung seiner Firma. Er hält übrigens viel von seiner Personalabteilung“.
Work-Life-Balance und Personalarbeit heute
Soweit der Case von vor vierzig Jahren. Er könnte sich heute noch ähnlich ereignen. Fast! Vier Unterschiede gäbe es: Erstens heißt kein Talent von heute Berthold. Zweitens würde Herr Bauer nicht auf ein 18-tägiges Seminar geschickt. Drittens würde sich seine Gemahlin kaum auf Kinderhüten samt Betreuungsgeld beschränken. Viertens würde sich kein heutiger Personalleiter ins Eheleben seiner Führungskräfte einmischen – zumindest nicht in seiner Funktion als HR Business Partner.
Martin Claßen hat 2010 das Beratungsunternehmen People Consulting gegründet. Talent Management gehört zu einem seiner fünf Fokusbereiche in der HR-Beratung.