"Hohe Fehlzeiten zeigen mangelnde Investitionen der Unternehmen"
Haufe Online-Redaktion: Der Krankenstand in den Unternehmen scheint gerade zu explodieren. Je nach Betrachtunsgweise werden dafür unterschiedliche Gründe genannt. Was sehen Sie als Hauptreiber der hohen Fehlzeiten?
Volker Nürnberg: Zum einen ist es der demographische Wandel; die älteren Arbeitnehmer fehlen zwar nicht häufiger, aber länger, das schlägt sich in den Fehltagen nieder. Doch auch der Fachkräftemangel trägt zu den Fehlzeiten bei. Eine Fehlzeitenanalyse der DAK legt den Schluss nahe, dass Unternehmen mit besonders hohen Personalmangel auch einen hohen Krankenstand haben. Mehrarbeit, schlechte Stimmung und kurzfristiges Einspringen wirken sich negativ aus. Das zeigt, dass wir in Deutschland kein Belastungs- sondern ein Regenerationsproblem haben. Der Personalmangel und Krankenstand haben sich zu einer Teufelsspirale entwickelt.
Auswirkungen der telefonischen und elektronischen Krankschreibung auf Fehlzeiten
Haufe Online-Redaktion: Finanzminister Christian Lindner hat kürzlich öffentlich die These vorgebracht, dass die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung schuld sei am hohen Krankenstand. Seine Aussage lässt sich so verstehen, dass den Leuten das Blaumachen damit leichter gemacht wird. Ist da etwas dran?
Nürnberg: Es gibt für eine solche Entwicklung keine wissenschaftlichen Beweise, im Gegenteil. Die telefonische Krankschreibung macht natürlich in bestimmten Fällen eine Krankschreibung recht niedrigschwellig. Gleichzeit führt sie jedoch auch zu einer Reduktion von Krankheiten, weil die Mitarbeitenden sich nicht mehr in der Arztpraxis zusätzlich anstecken können. Auch neigen Ärzte bei Arztbesuchen wegen „Lappalien“ meiner Erfahrung dazu, länger krankzuschreiben, damit der Patient nicht noch einmal wegen einer weiteren Krankschreibung vorstellig werden muss.
Haufe Online-Redaktion: Nun ist die Zahl der gemeldeten Fehlzeiten aber tatsächlich seit Einführung der elektronischen Krankeschreibung gestiegen. Wie lässt sich da der vermutete Zusammenhang zum Blaumachen entkräften?
Nürnberg: Die elektronische Krankschreibung gibt es flächendeckend seit 2023. Und tatsächlich ist der Krankenstand in dieser Zeit bis heute angestiegen. Im ersten Halbjahr 2023 zeigten Analysen der DAK einen Krankenstand von ca. 5,4 Prozent. Im ersten Halbjahr 2024 hat die DAK nun 5,8 Prozent Krankenstand festgestellt, das heißt, jeder DAK-versicherte Beschäftigte kam im ersten Halbjahr 2024 auf rund zehn Fehltage. Fehlzeitenreports anderer Krankenkassen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Doch es gibt bei diesen Statistiken kleine Unschärfen: Die Krankenkassen erfassen nur Krankheitstage, die über den Krankenschein gemeldet werden. Deshalb fehlten bisher in der Statistik häufig die ersten drei Tage, in denen viele Angestellten ohne Krankenschein fehlen dürfen. Dank der nun eingeführten elektronischen Krankschreibung gehen keine Krankenscheine mehr verloren – das führt natürlich rechnerisch zu einem deutlichen Anstieg der Fehltage.
Burnout als neue Pandemie
Haufe Online-Redaktion: Eine neue Studie der Hans-Böckler-Stiftung nennt neben dem von Ihnen bereits erwähnten Personalmangel und den belastenden Arbeitsbedingungen auch allgemeine Ängste aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Lage als Gründe für den Anstieg der psychischen Belastungen und damit letztendlich der Fehlzeiten. Wie beurteilen Sie das?
Nürnberg: Die globalen Krisen, Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, Klimafolgen mit Naturkatastrophen sowie die politischen Verwerfungen machen vielen Menschen Angst. Hier kann man eine deutliche Korrelation zur mentalen Gesundheit herstellen. Bei den psychischen Erkrankungen zeigt sich ein Anstieg von 14 Prozent gegenüber dem ersten Halbjahr 2023 - Burnout scheint sich zur neuen Pandemie zu entwickeln. Wirtschaftskrisen haben sich dagegen in der Vergangenheit immer so ausgewirkt, dass der Krankenstand nach unten ging, da Arbeitnehmer Arbeitsplatzängste haben. Hier muss man die Auswirkungen der Rezession weiter verfolgen.
Kontrolle krankgeschriebener Beschäftigter als Zeichen der Hilflosigkeit
Haufe Online-Redaktion: Was können Arbeitgeber denn nun tun? Tesla besucht seine kranken Mitarbeitenden zuhause. Ist das der richtige Weg?
Nürnberg: Ich habe davon gehört, dass Tesla seine krankgemeldeten Mitarbeitenden besucht und so kontrolliert. Das ist einfach nur unsinnig. Der Krankenstand scheint bei Tesla wirklich sehr hoch zu sein. Die Gründe liegen hier meist in den Arbeitsverhältnissen, der (Führungs-)Kultur, den Arbeitsbedingungen und der Unternehmensphilosophie. Es zeigt aber die Hilflosigkeit der Unternehmen gegenüber dem Thema. Unternehmen investieren noch zu wenig in die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden. Dabei sind diese die wichtigste Ressource, die sie haben. Die Prävention im Betrieb wäre der richtige Weg, sie führt aber nur mittel- und langfristig zu niedrigeren Fehltagen. Diese Return-on-Invest-Berechnung können viele Unternehmen nicht nachvollziehen. Man sollte sich Hilfe der Krankenkassen holen, aber auch die anderen Sozialversicherungsträger wie Berufsgenossenschaften und Rentenversicherung unterstützen inzwischen bei der Gesundheitsförderung, meist sogar kostenfrei.
Haufe Online-Redaktion: Am 10. Oktober ist Tag der psychischen Gesundheit. Was können solche Tage helfen?
Nürnberg: Dieser von der WHO ins Leben gerufene Tag hat zunächst natürlich nur Symbolcharakter. Trotzdem ist er gerade wegen der dramatisch steigenden psychisch bedingten Fehltage wichtig, um das Thema zu enttabuisieren und gerade den Führungskräften die Dringlichkeit der psychischen Gesundheit zu vergegenwärtigen. Aus der Symbolik des Tages sollten dann aber langfristige Angebote im Sinne des BGM-PDCA-Zyklus folgen.
Haufe Online-Redaktion: Was ist Ihre Empfehlung an Unternehmen, um die Fehlzeiten in den Griff zu bekommen?
Nürnberg: Fast die Häfte der Fehltage sind inszwischen von Langzeitkranken, also Beschäftigten, die über sechs Wochen arbeitsunfähig sind, verursacht. Deshalb gilt es, das betriebliche Wiedereingliederungsmanagement, kurz BEM, zu optimieren und die Teilnehmequoten an einem solchen Programm zu erhöhen. Manche Unternehmen bieten auch schon nach zwei Wochen ein „FrühBEM” an. Darüber hinaus müssen die Unternehmen an ihrer Kultur arbeiten, New Work im Sinne von Bergmann umsetzen und die Partizipation von Mitarbeitenden vorantreiben.
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