Die Frage ist ein Evergreen. Wenig verwunderlich, dass sie mir in den letzten Wochen gleich zweimal unterkam: einmal in einem Beratungsprojekt, einmal in einem Seminar: "Wie viel Menschen kann man eigentlich angemessen führen?". Die Antwort darauf ist simpel: Es gibt diese magische Zahl nicht. Nicht in der Wissenschaft und eigentlich auch nicht in der Praxis. Wenngleich dort Faustformeln kursieren, die irgendwo zwischen 7 und 15 liegen. Schauen wir uns deshalb noch einmal kurz an, was hinter dieser Frage steckt. Nämlich zweierlei.
Zum einen die Frage nach der Effektivität: Wie viele Menschen kann man so führen, dass sie die gesteckten Ziele erreichen, die die Führungskraft verantwortet?
Zum anderen die Frage nach den Kosten: Wie viele teure Führungskräfte muss ich vorhalten oder, anders herum, wie viele kann ich einsparen, ohne den Führungserfolg zu gefährden?
Führung geschieht auf mindestens vier Feldern
Beide Fragen sind legitim. Beide lassen sich nur beantworten, wenn man klärt, was man unter Führung versteht und worin sie besteht. Denn Führung, wie sie formale Führungskräfte in unseren Unternehmen leisten, umfasst mindestens vier große Bereiche:
- Fachliche Führung
- Business-Entwicklung
- Repräsentanz nach innen wie nach außen
- Menschenführung
Sehen wir uns kurz an, was die vier Dimensionen umfassen. Bei fachlicher Führung geht es darum, die vielen Fragen zu beantworten und Entscheidungen herbeizuführen, die das Geschäftsfeld oder die Teamaufgabe aufwerfen. Bei der Business-Entwicklung geht es darum, die wirtschaftlichen Ziele des Teams oder Bereiches zu erreichen und dasselbe auch für die Zukunft sicherzustellen. Die Repräsentanz nach innen wie nach außen umfasst alle Tätigkeiten, in denen die Führungskraft ihre Einheit in internen Gremien und auf externen Veranstaltungen vertritt.
Bleibt zu guter Letzt – und leider steht in immer noch recht vielen Fällen dieser Bereich an letzter Stelle – die Menschenführung. Sie meint die Anleitung, die Unterstützung in der Weiterentwicklung, die Fürsorge für Mitarbeitende, aber auch die Kontrolle von Leistung der Mitarbeitenden.
Menschenführung ist nur eines der Felder, aber das entscheidende
Daher gilt: Wer die richtige Führungsspanne für einen Bereich und ein Team sucht, sollte folgende drei Fragen beantworten. Erstens: Wie verteilen sich auf dieser Führungsstelle die Aufwände in den vier Bereichen? Auch eine Führungskraft hat nur begrenzt Zeit und Ressourcen, die sie auf die vier Bereiche aufteilen muss.
Zweitens: Was von den Tätigkeiten, die diese vier Bereiche mit sich bringen, muss zwingend von der Führungskraft übernommen werden und was kann zu ihrer Entlastung (und damit auch zur Entlastung des Budgets) delegiert werden? Gerade im Bereich Repräsentanz dient manche Tätigkeit nur dem eigenen Statusbedürfnis der Führungskraft. Sie könnte auch von anderen übernommen werden. In der fachlichen Führung können fitte Teams viel selbst organisieren und entscheiden. Und in der Business-Entwicklung sind es meist eher fehlender Einblick und beschnittene Zuständigkeiten, die verhindern, dass Mitarbeitende hier mehr Anteil nehmen.
Drittens: Nun gilt es noch den Bereich der Menschenführung zu betrachten. Hier stellt sich die Fragen: Verfügt die Führungskraft über ausreichend Nähe und Vertrauen in der Gruppe, um diesen Job gut zu machen? Forschung zeigt recht eindeutig, wie sehr Einfluss auf andere an der Erfahrung von Nähe hängt. Wer Menschen sagen will, wie sie sich weiterentwickeln können, warum sie sich anders verhalten sollen, warum es lohnt den vorgeschlagenen Weg mitzugehen, kann dies nur auf der Basis eines engen Verhältnisses wirksam tun. Auch kann man Menschen auf Leistung und Verhalten nur dann gut beurteilen, wenn man nah an ihnen dran ist.
Je mehr Zwischenmenschliches zu leisten ist, desto kleiner die Führungsspanne
Deshalb gilt: Ist auf einer Führungsstelle viel an diesen zwischenmenschlichen Führungsthemen zu leisten – weil zum Beispiel ein Veränderungsprozess läuft, weil die Gruppe in dieser Konstellation erst zusammenfinden muss, weil es notorisch Spannungen gibt – wird die Spanne derer, die in diesem Sinne sinnvoll geführt werden kann, nur sehr klein sein. Wer hier pro Woche weniger als 30 Minuten für Gespräche mit den einzelnen Mitarbeitenden hat, wird nichts bewegen. Wer für seine Kolleginnen und Kollegen kaum zu greifen und zu erleben ist und keine Einblicke in ihren Alltag gewinnt, ebenso.
Wer also dringend eine Zahl braucht, für den wäre ein sinnvoller Rechenweg aus meiner Sicht folgender: Ermitteln Sie die Summe der Stunden pro Woche, die mit den Bereichen 1,2 und 4 von der Führungskraft verbracht werden. Was übrig bleibt, kann in die Führung von Menschen investiert und sollte durch die Anzahl der zu führenden Mitarbeitenden geteilt werden. Fällt dieses Zeitbudget pro Mitarbeitendem gering aus und ist die Führungssituation komplex und fordernd, sollte man sich dringend eingestehen, dass für Führungskraft wie Team unzumutbare Zustände herrschen.
Vor diesem Hintergrund habe ich es mir abgewöhnt, Menschen, die von sich behaupten, 30 oder mehr Mitarbeitende zu "führen", als "Führungskraft" anzusehen. Sie sind im besten Falle Manager, im schlimmsten Falle Sachbearbeiter. Denn von Letzteren darf man legitimerweise erwarten, eine solche Zahl von Fällen, Akten, Mandanten zu "betreuen". Von Menschen, die Menschen in fordernden Zeiten führen sollen, kann man es nicht.
Randolf Jessl ist Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er berät, trainiert und coacht Menschen und Organisationen an der Schnittstelle von Führung, Kommunikation und Veränderungsanliegen. Zusammen mit Prof. Dr. Thomas Wilhelm hat er bei Haufe das Buch " Shared Leadership" veröffentlicht.