Warum Quereinsteiger im Recruiting zu wenig beachtet werden
Haufe Online-Redaktion: Frau Doktor Knecht, Quereinsteiger ist ein Etikett, mit dem sich Fach- und Führungskräfte gern schmücken, nachdem sie auf geradem Weg gescheitert sind. Wie definieren Sie den Begriff?
Sylvia Knecht: Ich unterscheide zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Quereinsteigern. Also denjenigen, die einerseits freiwillig einen neuen Beruf wählen wollen, und denjenigen, die durch Kündigung oder sonstige betriebliche Veränderung gezwungen sind, eine neue Perspektive zu suchen. Ich konzentriere mich auf Arbeitnehmer, die sich neu in einem beruflichen Umfeld orientieren, für das ihnen die formale Qualifikation im Sinne eines Studien- oder Berufsabschlusses nach einer Studien- oder Berufsordnung in Deutschland fehlt.
Tatsächlich ist für mich ein klassischer Quereinsteiger jemand, der nicht in dem Berufsfeld tätig ist, für das er ausgebildet wurde. Damit ist klar, dass Quereinsteiger beruflich in der Regel etwas tun, wofür ihnen nach allgemeinem Verständnis die Kompetenz fehlt. So mag man meinen. Und damit sind wir beim Dilemma: Denn im Kern geht es darum, dass Menschen sich in Berufe einbringen, für die ihnen die entsprechende Ausbildung fehlt. Und die hat ja nicht immer mit Vermittlung von Fachwissen zu tun, sondern auch viel mit Kompetenzen, Kreativität und geistiger Transferleistung.
Haufe Online-Redaktion: Können Sie ein Beispiel nennen?
Knecht: Nur weil jemand Goldschmied gelernt hat und seine Ausbildung formal sauber mit Gesellenbrief und Lehrstück absolviert hat, muss er nicht zwangsläufig ein guter, kreativer Goldschmied sein. Aber genauso verfahren wir im Einstellungsprozess mit Quereinsteigern: Wir stellen nur die fachliche Qualifikation in den Fokus. Das ist der Hauptgrund, warum wir jährlich 1,2 Millionen hoch motivierte Menschen, die sich beruflich verändern wollen, in den Bewerbungsprozessen als potenzielle Mitarbeiter ausblenden. Eigentlich unfassbar in Zeiten des demografischen Wandels und eines grassierenden Fachkräftemangels.
"Wir achten nur auf fachliche Qualifikation und blenden jährlich 1,2 Millionen Bewerber aus", so Sylvia Knecht.
Click to tweet
Haufe Online-Redaktion: Welches Potenzial steckt in Quereinsteigern?
Knecht: Die Frage würde ich gerne anders stellen: Was haben konventionelle Arbeitnehmer, was Quereinsteiger nicht haben? Und wovon profitieren Unternehmen, wenn sie Quereinsteiger einstellen? In der Tat nennen Betriebe vermeintlich fehlende Qualifikation beim Einsatz von Personen, die nicht zum Anforderungsprofil passen, als häufigsten Hinderungsgrund im Einstellungsverfahren. Einerseits kann man das verstehen, denn Risiko ist ein rotes Tuch im Personalbereich. Andererseits ist ein gewisses Maß an Risikofreudigkeit nicht nur in der Ehe, sondern auch bei anderen persönlichen Beziehungen oft viel wert – so auch in Arbeitsverhältnissen. Ideal wäre es daher, in der Potenzialanalyse des unternehmerischen Mehrwerts bei Quereinsteigern genauso offen zu sein wie bei fachlich passenden Bewerbern.
Haufe Online-Redaktion: Wie meinen Sie das?
Knecht: Ein Unternehmen ist bei einem konventionellen Bewerber oft bereit, zum Beispiel eine Qualifikation in einem Automatisierungsprogramm zu genehmigen und ihn dabei unterstützen, damit man ihn als zukünftigen Mitarbeiter gewinnt. Bei Quereinsteigern ist das dann ein Problem. Solange wir dieses Denken nicht aufgeben, werden gute Quereinsteiger als Bewerber keine Chance haben. Das ist bedauerlich, nicht nur für die Quereinsteiger selbst, sondern auch für die Unternehmen, denen echte Chancen entgehen.
Haufe Online-Redaktion: Quereinsteiger fallen in Auswahlverfahren oft durch, weil sie nicht passgenau qualifiziert sind. Wie können Unternehmen trotzdem diese interessante Zielgruppe erschließen?
Knecht: Seien wir ehrlich: Personalauswahl ist immer ein Glücksspiel. Man weiß heute, dass rund 30 Prozent der Bewerber Fake-Bewerbungen einreichen, denen man erst einmal auf die Schliche kommen muss. Bei einem Quereinsteiger weiß man aber, was an fachlicher Qualifikation fehlt. Hilfreich ist in jedem Fall, die Prozesse im Unternehmen neu aufzusetzen, wenn man sich neuen Zielgruppen widmen möchte.
"Seien wir ehrlich: Personalauswahl ist immer ein Glücksspiel. 30 % sind Fake-Bewerbungen", meint Sylvia Knecht.
Click to tweet
In meinem Buch habe ich diesem Prozess über 50 Seiten mit Praxistipps gewidmet, denn es gilt, von den Fachabteilungen bis hin zur Geschäftsführung den Rekrutierungsprozess völlig neu zu denken. Ein Beispiel: Die Standardfrage "Wo möchten Sie in fünf Jahren stehen?" kann einem Quereinsteiger so nicht gestellt werden. Denn er muss sich erst im neuen beruflichen Umfeld die fachlichen Qualifikationen aneignen, die ihn dann zu einem konventionellen Mitarbeiter im Unternehmen machen. Das heißt, man muss den klassischen Bewerbungsprozess beim Quereinsteiger ad acta legen. Und das Wichtigste: Man muss als Unternehmen Quereinsteiger auch wollen. Das setzt einen kulturellen Wandel im unternehmerischen Rekrutierungsdenken voraus.
Haufe Online-Redaktion: Aber viele Unternehmen schwören doch auf Quereinsteiger?
Knecht: Ich höre oft von den Verantwortlichen, dass sie sich dann doch für Quereinsteiger entschieden haben, weil sich sonst niemand beworben hat. Was für ein Armutszeugnis! Stattdessen sollte man sich klar machen, dass es sich für beide Seiten um eine Riesenchance handelt. Für die Unternehmen, weil sie kreatives Potenzial zu einem adäquaten Preis einkaufen und entwickeln können. Und für die Quereinsteiger, weil sie sich einbringen, entwickeln und so Mehrwert für sich, aber auch das Unternehmen schaffen können.
Haufe Online Redaktion: Der Begriff legt es schon nahe: Quereinsteiger sind beweglich, agil, vielleicht auch sprunghaft. Ist das ein Problem für Unternehmen, die gute Leute möglichst langfristig binden wollen?
Knecht: Natürlich. Aber nicht, weil es sich um Quereinsteiger handelt. Denn die sind, wie wir aus Studien wissen, in der Regel extrem loyal und langfristig an einem Arbeitsverhältnis interessiert, wenn sie eine Chance bekommen. Der Denkfehler liegt vielmehr auf der betrieblichen Seite. Wer im 21. Jahrhundert in einer globalisierten und digitalen Welt immer noch an das Arbeitsverhältnis von 40 Arbeitsjahren glaubt, sollte sein Geschäftsmodell überdenken.
"Es fehlt Arbeitgebern an Mut, die Bewerber losgelöst von Leistungsnachweisen zu beurteilen", sagt Sylvia Knecht.
Click to tweet
In der Regel wechselt ein Arbeitnehmer heute mindestens zwischen drei- und viermal im Laufe seines Lebens den Arbeitgeber. Und gerade junge Menschen wagen zwischendurch einmal den Sprung in die Selbstständigkeit und wollen später zurück in ein konventionelles Arbeitsverhältnis. Das sind aber Themenbereiche, auf die wir in den Bewerbungsprozessen immer noch nicht eingestellt sind.
Haufe Online Redaktion: Welche Aufstiegsperspektive haben Quereinsteiger? Bleiben sie in ihrer Nische hängen oder haben sie das Zeug zum General Manager?
Knecht: Mit Angela Merkel und Franz Beckenbauer gibt es prominente Beispiele in Politik und Sport, wo der Quereinstieg bereits als Aufstiegs- und Karrierechance akzeptiert ist. In den meisten Berufsfeldern wird eine solche Möglichkeit allerdings immer noch zu selten genutzt. In Deutschland fehlt es den Arbeitgebern an Mut, das Wissen und Können von Bewerbern unabhängig und losgelöst von bisher erbrachten Leistungsnachweisen zu beurteilen. Deshalb stellt sich für mich gar nicht die Frage, ob sie das Zeug zum General Manager haben – sondern wann sie endlich die Chance bekommen, dieses endlich unter Beweis zu stellen.
Haufe Online-Redaktion: Sie engagieren sich in der Kommunalpolitik in Ihrer Heimatgemeinde Frechen. Würden Sie sich als politische Quereinsteigerin bezeichnen?
Knecht: Nicht wirklich. Denn ich habe politische Wissenschaften studiert und in diesem Fach promoviert. Daher betrachte ich gesellschaftliche Themen auch immer in einem politischen Kontext. Ihre Frage ist aber ein wunderbares Beispiel dafür, wie man als Fach-Frau viel von Kollegen und Kolleginnen in den Stadt- und Kreistagsgremien lernen kann. Also nichts anderes als unsere Betrachtung der Quereinsteiger im beruflichen Bereich. In der Politik gilt eben das gleiche wie im beruflichen Kontext: Eine gesunde Mischung zwischen Fachleuten und Quereinsteigern birgt die größtmögliche Teilmenge an Argumenten und Lösungen. Wir sollten uns endlich darauf einlassen.
Das Interview führte Christoph Stehr.
Dr. Sylvia Knecht ist Inhaberin der Beratungsagentur Linch Pin in Frechen bei Köln und Autorin des Buchs "Personalgewinnung in Zeiten des Fachkräftemangels. Quereinsteiger als potenzielle Kandidaten entdecken".
Mehr zum Thema:
-
Workation und Homeoffice im Ausland: Was Arbeitgeber beachten müssen
2.213
-
Essenszuschuss als steuerfreier Benefit
1.668
-
Vorlage: Leitfaden für das Mitarbeitergespräch
1.605
-
Probezeitgespräche als Feedbackquelle für den Onboarding-Prozess
1.460
-
Ablauf und Struktur des betrieblichen Eingliederungsmanagements
1.453
-
Krankschreibung per Telefon nun dauerhaft möglich
1.243
-
BEM ist Pflicht des Arbeitgebers
1.123
-
Checkliste: Das sollten Sie bei der Vorbereitung eines Mitarbeitergesprächs beachten
797
-
Das sind die 25 größten Anbieter für HR-Software
593
-
Modelle der Viertagewoche: Was Unternehmen beachten sollten
430
-
BBG 2025: Was ändert sich für die betriebliche Altersvorsorge?
03.12.2024
-
Wie Cybervetting die Personalauswahl unterstützen kann
03.12.2024
-
Diese Stars der HR-Szene sollten Sie kennen
02.12.2024
-
Die Inklusion in deutschen Unternehmen ist rückläufig
29.11.2024
-
Tipp der Woche: Mit Mitarbeitergesprächen Wertschätzung zeigen
28.11.2024
-
Konjunkturabschwächung trifft HR-Softwaremarkt
28.11.2024
-
So machen Sie Active Sourcing falsch
27.11.2024
-
Der deutsche Arbeitsmarkt wird lange auf viel Zuwanderung angewiesen sein
26.11.2024
-
Wie KI die Misserfolgsquote von Projekten in Deutschland verbessern kann
26.11.2024
-
Vorlage: Leitfaden für das Mitarbeitergespräch
21.11.2024