Es gibt Fragen, bei denen sollte man erst einmal klären, warum man sie stellt. Zum Beispiel diese hier: Kann man Führung teilen? Diese Frage höre ich immer öfter. Was auch damit zu tun hat, dass ich als Co-Autor des Buches "Shared Leadership. Zu mehr Engagement und besseren Ergebnissen dank geteilter Führung" für dieses Thema sensibilisiert bin.
Co-Leadership und Collective Leadership treiben das Thema geteilte Führung
Es gibt mindestens zwei Gruppen, die sich für Antworten auf diese Frage interessieren. Zum einen Führungskräfte, die sich eine Führungsposition teilen möchten, samt ihren Chefinnen und zuständigen Personalentwicklern, die sich fragen, ob das sinnvoll ist. In diesem Fall sprechen wir über "Co-Leadership" oder "Top-Sharing". Dieses Modell gewinnt rasant an Bedeutung. Beim Maschinenbauunternehmen Trumpf sind es bislang noch drei Tandems, die sich eine Führungsposition teilen. Mercedes Benz hat dagegen angeblich bereits über 200 in seinen Reihen. Und auch aus Firmen wie SAP, Haniel, Deutsche Bahn, Austrian Airlines, Bosch Power Tools, John Deere und einer Asklepios Klinik (hier sogar drei Chefärztinnen) sind mir Fälle bekannt.
Die zweite Gruppe sind all jene Menschen, die mit agilen Methoden und Formen der Selbstorganisation Berührung hatten, die Scrum, Holacracy oder Soziokratie praktizieren und dabei merken, dass Führung nicht an formalen Führungskräften hängen muss. Sie wissen, dass Leadership auch in Rollen gelebt oder zwischen Menschen, die situativ in Führung gehen, rollieren kann. In diesem Fall sprechen wir von "Shared" oder sogar besser "Collective Leadership". Auch hier gibt es zahlreiche Beispiele. In unserem Buch beleuchten wir zum Beispiel ausführlich die niederländischen Immobilienkredit-Berater von Viisi. Bei ihnen gibt es keine formalen Chefinnen und Chefs. Dafür gibt es vier Führungsrollen – den Lead Link, Rep Link, Facilitator und Secretary – die in Teams alle halbe Jahre neu bestimmt werden, sodass sich alle in jeder Rolle ausprobieren und einbringen können. Führung ist hier Dienst an der Gruppe und nicht Karriere- und Vergütungsbaustein.
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Drei Gründe, warum geteilte Führung sinnvoll ist
Führung lässt sich daher ohne Weiteres teilen – und das geschieht auch schon. Doch ist es sinnvoll? Ja – und das hat mindestens drei Gründe. Erstens: Weil geteilte Führung aktuelle, drängende Probleme löst! Zweitens: Weil geteilte Führung bessere Führung ist! Drittens: Weil geteilte Führung eigentlich der Normalfall ist, der aber kurioserweise lange Zeit nicht im Blickfeld war und in Unternehmen kaum vermittelt und trainiert wird.
Erstens: Geteilte Führung löst akute Probleme
Fangen wir mit Begründung eins an. Co-Leadership oder Top-Sharing findet immer mehr Anhänger, weil fähige Frauen, aber zunehmend auch Männer in Teilzeit nur so für Führungspositionen gewonnen werden. Zwei 0,6 FTE auf einer Führungsposition ergeben dann 1,2 FTE auf einer Führungsstelle – also 20 Prozent höhere Kosten bei doppelt so viel Erfahrung, Perspektiven und Einsatz. Wenn sich diese Tandems gut aufeinander einstellen, ihre Kompetenzen und Zuständigkeiten im Binnenverhältnis klären, Werte und Ziele teilen, ihr Dominanzstreben mit Partnerschaftlichkeit versöhnen und nach außen mit einer Stimme sprechen, kann dieser Mehrwert gehoben werden.
Aber auch Collective Leadership löst drängende Probleme. Die nämlich, dass agile Methoden, flache Hierarchien und "empowerte" Teams nur dann im ganzen Unternehmen Wirkung entfalten, wenn alle – und das heißt formale Chefinnen und informell Führende – dieselben Überzeugungen und das nötige Handwerkszeug zu Führung teilen.
Zweitens: Geteilte Führung ist bessere Führung
Nun zu Grund zwei: Geteilte Führung ist bessere Führung, weil hier unterschiedliche Stärken addiert werden, weil das Führen und Folgen permanent reflektiert werden muss und weil die Last des Führens auf mehrere Personen verteilt werden kann – zugunsten von mehr Zeit fürs Business, für Managementaufgaben oder sogar für Fachfragen, von denen sich Vollzeitführungskräfte immer weiter entfernen. Dies gilt für das Tandem auf der Führungsposition genauso wie bei den Formen rollierenden Führens in Teams und Organisationen.
Drittens: Geteilte Führung ist der übersehene Regelfall
Und der Aspekt drei? Eigentlich ist geteilte Führung gar nicht so außergewöhnlich. Ein Paar, das eine Familie gründet, praktiziert sie im Grunde. Der Freundeskreis, der eine Bergtour plant, wählt keine Chefs, ist aber auf die Ideen, die Erfahrung und die Initiativen einzelner angewiesen, um der Gruppe einen erfolgreichen und sicheren Trip zu ermöglichen. Eine Bürgerinitiative, die ein Ziel erreichen will, organisiert sich in der Regel im Modus des wechselseitigen Führens und Folgens.
In Politik und Wirtschaft kennen wir geteilte Führung auch schon länger, als wir die neuen Begrifflichkeiten dafür verwenden: der selbstorganisierte Arbeitskreis, die Doppelspitze in Kliniken und Hochschulen, jüngst auch in Parteien, oder schlicht die partizipativ führende Chefin, die sich als "servant leader" versteht und ihre Aufgabe darin sieht, Mitarbeitende dazu zu animieren, Initiative zu zeigen, Probleme zu lösen, Innovationen anzustoßen, Mitmachende zu gewinnen und dann nur noch Hemmnisse aus dem Weg räumt.
Aber wie äußert sich in solchen Fällen Führung? Woran lässt sie sich erkennen, wenn Führende keine Schulterklappe mehr tragen? Was braucht es hier für den Erfolg? Wer muss dann eigentlich was können, und welche Rolle spielen dann noch formale Chefinnen und Chefs? Die Forschung hat sich diesen Fragen seit gut zwei Jahrzehnten intensiv gewidmet, "shared leadership" und "emergent leadership" sind dort hoch im Kurs. Mit den vielen Praktikerinnen und Praktikern, die diese Fragen nun stellen, entdecken auch die einschlägigen Coaches, Weiterbildner und Personalentwicklerinnen das Thema.
Und das ist gut so. Denn geteilte Führung gewinnt an Relevanz und Durchschlagskraft. Und wer sich mit Co-Leadership und Collective Leadership befasst, lernt viel über Führung. Davon profitieren dann selbst jene, die immer noch der Meinung sind, es könne nur eine Person geben, die führt und die den Hut aufhat.
Tipp der Redaktion: Lesen Sie dazu auch Randolf Jessls Beitrag "Erste Schritte zu Shared Leadership".
Randolf Jessl ist Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er berät, trainiert und coacht Menschen und Organisationen an der Schnittstelle von Führung, Kommunikation und Veränderungsanliegen. Zusammen mit Prof. Dr. Thomas Wilhelm hat er bei Haufe das Buch " Shared Leadership" veröffentlicht.