Eine Personalentwicklerin schüttete mir jüngst ihr Herz aus, wie schwer es sei, die Beschäftigten aus ihrer Organisation überhaupt in Schulungen zu bekommen. Immer das gleiche Argument. Keine Zeit. Bedarf gäbe es zwar, aber die Mitarbeitenden kämen einfach nicht oder meldeten sich an und blieben dann weg. Sie würde gerne im Sinne der Lerntransferförderung auch Follow-Up-Schulungen machen, aber dann breche die Teilnahmequote radikal ab.
Fehlende Zeit als allgemeines Problem der Weiterbildung
Das Problem "Kein Zeit" fängt also schon vor der Schulung an und ist nicht nur ein Problem danach. Es ist kein Einzelfall, wie ich aus diversen Erzählungen weiß. Auch die KOFA-Studie 1/2024 vom Institut der Deutschen Wirtschaft zeigt dies. Danach ist bei rund 60 Prozent der kleinen und mittelgroßen Unternehmen (KMU) sowie auch in Großunternehmen die fehlende Zeit das größte Weiterbildungshemmnis. Befragt wurden 953 Personalverantwortliche.
Meine eigenen Daten spiegeln dieses Problem ebenfalls wider. Auf der Basis von mittlerweile rund 8.000 Analysen, bei denen ich die Transferstärke von Teilnehmenden messe, schneidet der Faktor "Keine Zeit für Neues und Übung" unterdurchschnittlich schlecht ab.
Keine Zeit zum Lernen - das ist nicht neu
Mehr Leistungs- und Zeitdruck, viel Arbeit und Überlastung – das ist tatsächlich ein Phänomen in den Firmen, wie u.a. Gesundheitsreports von Krankenkassen sichtbar machen. Bereits vor ein paar Jahren sagten mehr als 2.000 Befragte in der WSI Betriebs- und Personalrätebefragung 2017 (Hans-Böckler Stiftung), dass die Beschäftigten in ihrem Betrieb mehr Arbeit bewältigen müssen als noch vor zwei Jahren. 76 Prozent meinten, die Beschäftigten müssten mehr leisten.
Es ist wohl etwas dran an der Aussage "Keine Zeit". Doch allen Studien zum Trotz ist das Argument überhaupt nicht neu. Ich bin seit fast 30 Jahren im Trainingsgeschäft. Und auch schon 1994 traf ich Teilnehmende bei Folgetrainings wieder und mir prallten Sätze entgegen wie: "War schwierig." "Keine Zeit."
Einen Zahnarzttermin würde keiner sausen lassen
Schlussendlich ist es ganz einfach. Die Aussage "Keine Zeit" bedeutet am Ende "Keine Priorität für die Umsetzung". Doch ist es wirklich so einfach? Ich erinnere mich, wie mir ein Kollege von einem Telefontraining für den Innendienst eines Unternehmens erzählte. Die Teamleiterin hatte ganz im Sinne der Lerntransförderung ihren Mitarbeitenden gesagt, dass es okay und auch gewünscht sei, dass sie sich nach dem Training im Arbeitsalltag Zeiten reservieren, in denen sie sich um die Nacharbeit der Trainingsinhalte kümmern sollten. Eine Führungskraft, die so denkt, ist gar nicht so häufig anzutreffen. Er war daher super happy. Als er die Teilnehmenden in Folgetrainings nach ihren Umsetzungserfahrungen fragte, kam zum Ausdruck, dass diese die Lernzeit vielfach gar nicht genutzt hatten. Warum? Eine häufige Begründung: Sie wollten keine unzufriedenen Kunden. Ein anderer Grund: Sie hätten die Arbeit liegenlassen müssen und wären dadurch in Verzug gekommen. Also ein Werte- beziehungsweise Zeitkonflikt. Doch ich will es nicht beschönigen. Wenn die Teilnehmenden Zahnweh gehabt hätten, hätten sie sich trotz allem die Zeit genommen, zum Zahnarzt zu gehen. Also doch eine Frage der Wertigkeit.
Was also können L&D Professionals und Trainer sowie Trainerinnen überhaupt tun? Welche Ansatzpunkte gibt es, die Transferbremse "Keine Zeit" – zumindest etwas - zu lösen?
Den Lerntransfer weniger dem Zufall überlassen
Wenn Teilnehmende eine Schulung absolvieren, dann liegt es typischerweise in deren Ermessen, wie sie die Umsetzung steuern und ihr persönliches Zeitmanagement gestalten. An dieser Stelle könnte die Lerntransförderung ansetzen. Die folgenden Strategien sind hier nützlich.
- Vorab erfolgskritische Themen identifizieren, die für Teilnehmende die Bedeutung eines Zahnarzttermins haben. Vieles von dem, was in Schulungen passiert, ist aus Sicht von Teilnehmenden "nice to have". Deshalb liegt es nahe, sich vor einer Maßnahme die Mühe zu machen zu erfassen, was ein Teilnehmender braucht, damit er für den Lerntransfer quasi kämpft. Wenn die Zeit knapp ist, braucht es den Fokus darauf, was das eine ist, was jemand wirklich umsetzen will.
- Konkreten Zeitbedarf klären. Es macht einen Unterschied, ob ich Zeit benötige, um Themen nachzulesen oder zu üben oder ob ich nur in bestimmten Momenten bei Verhaltensänderungen lernen muss, umzudenken. Folglich gilt es mit Teilnehmenden zu besprechen, wieviel Zeit für was sie benötigen und wann sie dafür die Zeit im Terminkalender haben.
- Lerntransferzeit im Kalender notieren. In den Terminkalendern steht alles Mögliche. Die Erfahrung zeigt, dass sich Teilnehmende aber dort keine Zeitblocker für den Lerntransfer notieren. Damit fängt die Bedeutungslosigkeit des Vorsatzes dann schon an.
- Schriftliche Lerntransfer-Vereinbarungen festlegen. Verbindlichkeit entsteht durch Verschriftlichung. Folglich gilt es Zielvereinbarungen beziehungsweise Leistungskennzahlen mit der Umsetzung von Schulungen zu koppeln und entsprechend nachzuhalten.
- Verbindlichkeit durch Social Learning schaffen. Menschen kann man nicht so einfach „wegklicken“, wie einen Termin im Kalender. Die Verbindlichkeit lässt sich dadurch erhöhen, indem es definierte Termine mit Vorgesetzten, kollegialen Lernpartnern oder Trainern gibt.
- Arbeit an der Lernkultur. Ein weiterer Ansatzpunkt liegt darin, wie Lernen im Unternehmen ermöglicht wird. Es braucht klare zeitliche Ressourcen und Vereinbarungen bezüglich der Frage, wann gelernt werden kann. Bei sogenannten Lernzeitkonten werden ein Lernzeitrahmen festgelegt sowie die Lernzeiten dokumentiert, um das Lernen und die Qualifizierung der Mitarbeiter sicherzustellen und eine Benachteiligung durch diese Lernguthaben auszuschließen.
Zusammengefasst ist die wichtigste Strategie, Schulungen nicht von der Inhaltsseite zu denken, sondern aus der Perspektive, mit welchem konkreten und machbaren Zeitaufwand welche Effekte erzielt werden sollen. Das bedeutet mehr Fokus und Priorität.
Prof. Dr. Axel Koch ist promovierter Diplom-Psychologe und arbeitet Professor für Training und Coaching an der Hochschule für angewandtes Management in Ismaning (bei München). In seiner Forschung befasst sich Koch mit dem Thema Lerntransfer und nachhaltige Veränderung. Er hat über 25 Jahre Erfahrung als Personalentwickler, Trainer und Coach. Er steckt hinter dem Pseudonym "Richard Gris", unter dessen Namen 2008 das Buch "Die Weiterbildungslüge" erschien.