Zur fiktiven Anrechnung von möglichen Nebenverdiensten
Nach Trennung der Eheleute hatte die Ehefrau den Antragsgegner auf Zahlung von Mindestkindesunterhalt für die drei minderjährigen Kinder gerichtlich in Anspruch genommen. Der Antragsgegner berief sich demgegenüber auf Leistungsunfähigkeit. Er hatte einige Jahre erfolglos selbstständig eine Gaststätte geführt und lebte anschließend von Arbeitslosengeld II nach dem SGB II. Das Familiengericht verurteilte den Antragsgegner antragsgemäß. Nach Auffassung des AG ist der Antragsgegner in der Lage, als Koch einer angemessenen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das AG rechnete daher dem Antragsgegner ein monatlich fiktives Bruttoeinkommen in Höhe von 2.188 € für eine mögliche Beschäftigung als Hilfskoch an und errechnete hieraus ein mögliches Nettoeinkommen von monatlich 1.466 €. Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Antragsgegners hatte Erfolg.
Gesteigerte Erwerbsobliegenheit
Auch das OLG stellte zunächst klar, dass für den Antragsgegner gegenüber seinen minderjährigen Kindern eine gesteigerte Erwerbsobliegenheit gemäß § 1603 BGB gelte. Hiernach werde von dem Antragsgegner verlangt, alles in seiner Macht stehende zu tun, um eine vollschichtige Erwerbstätigkeit zu erlangen. Insoweit sei der Antragsgegner auch voll beweisbelastet. Beweise für diesbezüglichen Bemühungen um eine Vollzeitstelle habe er nicht hinreichend erbracht, so dass auf dieser Grundlage die Anrechnung eines fiktiven Einkommens grundsätzlich in Betracht komme.
Fiktive Anrechnungsbeträge müssen realitätsnah ermittelt werden
Nach Auffassung des OLG war die fiktive Einkommensanrechnung des AG aber nicht realistisch. Nach Einschätzung des OLG ist der Antragsgegner auf dem deutschen Arbeitsmarkt als ungelernt anzusehen. Als Tamile mit eingeschränkten deutschen Sprachkenntnissen sei er nur begrenzt vermittelbar und aufgrund vorgelegter ärztlicher Atteste auch gesundheitlich nicht voll belastbar. Im Falle hinreichender Erwerbsbemühungen sei lediglich die Beschäftigung als ungelernter Beikoch realistisch. Der Durchschnittslohn eines Beikochs in Nordrhein-Westfalen betrage durchschnittlich brutto 1.387 €. Nach Abzug der Beiträge für Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung verbleibe ein theoretisch erzielbarer Nettolohn von 1.034,09 monatlich. Nach dem für Berufstätige anzusetzenden Pauschalabzug für berufsbedingte Aufwendungen in Höhe von 5 % rutsche das Nettoeinkommen unter den notwendigen Selbstbehalt eines Erwerbstätigen von monatlich 1.000 €.
Keine Anrechnung einer fiktiven Nebentätigkeit
Das OLG prüfte darüber hinaus die Frage, ob bei dem Antragsgegner die Anrechnung eines fiktiven Einkommens aufgrund einer fiktiven Nebentätigkeit möglich sei. Der Antragsgegner bezieht monatliche SGB II - Leistungen des zuständigen Jobcenters in Höhe von 774 €. Neben dem Bezug von Arbeitslosengeld II ist das Erzielen eines Nebenverdienstes grundsätzlich zulässig. Gemäß § § 11, 11a, 11b SGB II wird ein solches Nebeneinkommen dabei nicht in vollem Umfange auf den SGB II - Bezug angerechnet. Gemäß § 11 b Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 Nr. 1 SGB II verbleibt nach dem Vorwegabzug von Sozialversicherungsabgaben und berufsbedingte Aufwendungen dem Berechtigten von dem Zusatzeinkommen ein pauschaler Betrag in Höhe von 100 € und von dem 100 € übersteigenden Einkommen ein Anteil von 20 % anrechnungsfrei. Insoweit errechnete das OLG für den Antragsgegner ein monatliches Zusatzeinkommen in Höhe von 165,50 €. Das bereinigte Nettoeinkommen belief sich damit auf insgesamt 939,50 €. Unter Berücksichtigung des dem teilweise Erwerbstätigen zustehenden Selbstbehaltes in Höhe von 850 - 900 € verblieb damit eine geringfügige Leistungsfähigkeit des Antragsgegners.
Zurückhaltende Anrechnung fiktiven Einkommens ist geboten
An dieser Stelle verwies der Senat auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach auch bei der Geltendmachung von Mindestkindesunterhalt grundsätzlich eine zurückhaltende Herangehensweise an die zu berücksichtigen fiktiven Einkünfte geboten sei (BVerfG, Beschluss v. 11.03. 2010, 1 BvR 3031/08). Hieraus zog das OLG den Schluss, dass bei der Anrechnung fiktiver Nebeneinkünfte neben dem Bezug von Arbeitslosengeld II zwischen zwei Fallvarianten zu differenzieren sei:
- Liege bereits ein vollstreckbarer Unterhaltstitel vor, so könne der Antragsgegner sich hierauf einstellen und müsse mit einer jederzeitigen Pfändung seiner Einkünfte aufgrund des Unterhaltstitels rechnen. In diesem Fall sei auch eine fiktive Anrechnung von möglichen Nebeneinkünften gerechtfertigt.
- Liege – wie im vorliegenden Fall – dagegen noch kein vollstreckungsfähiger Unterhaltstitel vor, so führe die verfassungsrechtlich gebotene restriktive Berücksichtigung fiktiver Anrechnungsbeträge dazu, dass eine solche nicht in Betracht komme.
Dieses Ergebnis folgt nach Auffassung des OLG auch aus dem gesetzgeberischen Zweck der §§ 11, 11a, 11 b SGB II. Diese hätten nämlich nicht den Sinn, dem Unterhaltsgläubiger die Möglichkeit zu eröffnen, Kindesunterhalt auf der Grundlage von Sozialleistungen und teils anrechnungsfreier, rein fiktiver Nebeneinkünfte erstmals titulieren zu lassen. Damit wich das OLG bewusst von der Entscheidung einiger anderer Oberlandesgerichte ab (OLG Brandenburg, Beschluss v. 08.02.2008, 13 UF 6/07). Im Ergebnis ging die Antragstellerin somit leer aus.
(OLG Hamm, Beschluss v. 06.01.2014, 3 UF 192/13)
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