Die überlange Dauer von Strafverfahren hat sich in der Justiz zum Dauerproblem entwickelt. Immer wieder kommt es vor, dass der Begehung schwerer Straftaten verdächtige U-Häftlinge aus der Haft entlassen werden müssen, weil die Strafverfahren sich zu lange hinziehen.
Pakt für den Rechtsstaat zur Beschleunigung von Justizverfahren
Das Problem ist seit vielen Jahren bekannt. Am 31.1.2019 haben die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder in einer Ministerpräsidentenkonferenz gemeinsam einen „Pakt für den Rechtsstaat“ geschlossen. In einer gemeinsamen Kraftanstrengung wollten Bund und Länder durch verschiedene Maßnahmen, insbesondere durch eine bessere Personal- und Materialausstattung (Digitalisierung) den Justizapparat stärken und so für eine straffere Durchführung von Justizverfahren sorgen.
Überlastung der Justiz rechtfertigt keine überlange Untersuchungshaft
Die Leitplanken für die zulässige Dauer einer Untersuchungshaft hatte das BVerfG bereits seit längerer Zeit aufgestellt. Anlässlich des seinerzeit in der Öffentlichkeit stark beachteten Frankenthaler Babymordprozesses hatte das BVerfG entschieden, dass auch bei einer erheblichen Schwere der angelasteten Tat, eine überlange Dauer der Untersuchungshaft nicht mit dem Argument gerechtfertigt werden kann, das für das Strafverfahren zuständige Gericht sei hoffnungslos überlastet und habe deshalb noch keine Hauptverhandlung anberaumen können.
Verpflichtung des Staates zu verfassungsgemäßer Justizausstattung
Das BVerfG betonte in seiner Entscheidung, eine Überlastung der Justiz liege allein im Verantwortungsbereich des Staates. Das Grundrecht der Freiheit der Person gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dürfe nicht unverhältnismäßig eingeschränkt werden, nur weil der Staat es versäumt habe, seiner Pflicht zu einer verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen. Art. 104 GG statuiere besondere Verfahrensgarantien für die Beschränkung von Freiheitsrechten. Eine Überlastung der Justiz sei kein wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO, der eine überlange Dauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könne (BVerfG, Beschluss v. 23.1.2019, 2 BvR 2429/18).
In Haftsachen gilt besonderes Beschleunigungsgebot
Das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot erfordert nach den Maßstäben des BVerfG eine zügige Durchführung sowohl des strafrechtlichen Zwischen- als auch des Hauptverfahrens. Sei die Frage der Zulassung der Anklage entscheidungsreif, müsse die Entscheidung zügig getroffen werden. Die Hauptverhandlung müsse im Regelfall innerhalb von 3 Monaten nach Zulassungsreife beginnen (BVerfG, Beschluss v. 4.5. 2011, 2 BvR 2781/10; Beschluss v. 11.6.2018, 2 BvR 819/18). Ein Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder Erlass des Urteils sei nur in ganz eng begrenzten Ausnahmefällen unter strenger Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu rechtfertigen, wenn dies infolge einer ungewöhnlichen Komplexität des Falls und wegen einer erheblichen Gefährlichkeit des betroffenen Angeklagten unausweichlich sei. Andernfalls dürfe ein Haftbefehl nicht über eine solche Zeitspanne aufrechterhalten werden (BVerfG, Beschluss v. 1.12.2020, 2 BvR 1853/20).
In kurzer Zeit sechs U-Häftlinge in Frankfurt entlassen
Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung des BVerfG hat das OLG Frankfurt aktuell insgesamt 6 Häftlinge aus der Untersuchungshaft entlassen, die sich zwischen 9 und 12 Monaten in Untersuchungshaft befanden. Anklagepunkte waren u.a. versuchte Tötung, gefährliche Körperverletzung und schwerer Raub. Den Hinweis des LG auf eine strukturelle Überlastung durch eine hohe Zahl Haftsachen ließ das OLG nicht gelten, zumal nach einer Mitteilung des LG mit einer kurzfristigen Eröffnung der Hauptverfahren nach wie vor nicht zu rechnen sei. Sämtliche Beschuldigte waren nach entsprechenden Entscheidungen des OLG sofort auf freien Fuß zu setzen.
(OLG Frankfurt, Beschlüsse v. 30.6.2022 u. 28.6.2022, 2 HEs 224-227/22 u.a.)
Hintergrund:
Die personelle Ausstattung der Justiz mit einer ausreichenden Zahl an Richterstellen bleibt trotz des Paktes für den Rechtsstaat eine Dauerbaustelle. Die frühere Bundesministerin der Justiz, Christine Lambrecht, hatte in einer Stellungnahme im Juni 2021 vorgerechnet, dass seit Abschluss des Paktes im richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Bereich der Justiz rund 2.700 Stellen neu geschaffen und davon 2.500 Stellen neu besetzt worden seien. Das im Rahmen des Paktes vereinbarte Ziel von rund 2.000 neuen Stellen sei damit deutlich übertroffen worden.
Aufstockung der Richterstellen brachte keine langfristige Entlastung
Trotz dieser Fortschritte wurde das Problem der Entlassung von Häftlingen wegen überlanger Verfahrensdauer bis heute nicht gelöst. Nach einer Recherche der Deutschen Richterzeitung (DRiZ) musste die Strafjustiz im Jahr 2021 bundesweit mindestens 66 Tatverdächtige wegen überlanger Verfahrensdauer aus der Untersuchungshaft entlassen. Im Jahr 2020 hatten die Justizverwaltung der Länder noch 40 solcher Entlassungsfälle gemeldet. Das bedeutet, dass die Entlassungszahlen wieder ansteigen. Der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, Sven Rebehn, äußerte gegenüber der Deutschen Presseagentur, gerade die aktuellen Entlassungsfälle aus Frankfurt zeigten deutlich, dass in der Strafjustiz nach wie vor Staatsanwälte und vor allem Strafrichter fehlten.
Ampelkoalition muss Rechtsstaatpakt 2.0 angehen
Rebehn wies u.a. auf die in den Bundesländern Sachsen, Schleswig-Holstein und Bayern für das Jahr 2021 gemeldeten 2-stelligen Haftentlassungszahlen wegen überlanger Verfahrensdauer hin. Lediglich in den Bundesländern Brandenburg, Bremen, Hamburg und dem Saarland seien 2021 keine Haftentlassungen wegen überlanger Strafverfahren erforderlich gewesen. Er verwies auf den von der Ampelkoalition versprochenen Rechtsstaatpakt 2.0. und forderte die Bundesregierung auf, umgehend konkrete Maßnahmen für eine bessere personelle Ausstattung der Justiz zu ergreifen.