Verkürzung des Genesenenstatus auf 30 Tage verfassungswidrig?
Ein niedersächsischer Antragsteller hatte sich gegen eine seit 15.1.2022 geltende Verkürzung des Genesenenstatus auf 90 Tage gerichtlich zur Wehr gesetzt und beim zuständigen VG einstweiligen Rechtschutz beantragt. Das VG gab seinen diversen Anträgen in einem wesentlichen Punkt statt und verpflichtete den Landkreis Osnabrück im einstweiligen Anordnungsverfahren, dem Antragsteller einen Genesenennachweis für sechs Monate auszustellen.
Genesenenstatus galt ursprünglich 180 Tage
In § 2 Nr. 5 der „Verordnung zur Regelung von Erleichterungen und Ausnahmen von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Covid-19“ (SchAusnahmVO) in der Fassung vom 8.5.2021 war der mit den allgemein bekannten Erleichterungen bei den Coronabeschränkungen verbundene Genesenenstatus an einen Zeitraum von 180 Tagen beginnend 28 Tage nach einer positiven PCR-Testung, also der Feststellung einer Covid-19-Erkrankung, geknüpft.
RKI verkürzte Genesenenstatus auf 90 Tage
Infolge einer vom RKI auf seiner Internetseite am 14.1.2022 vorgenommenen Änderung wurde der Genesenenstatus zum 15.1.2022 ohne Vorankündigung auf 90 Tage verkürzt. Die von dieser Regelung Betroffenen hatten keine Möglichkeit, sich auf diese Änderung vorzubereiten, die in einigen Bundesländern mit deutlichen Einschränkungen u.a. beim Besuch des Einzelhandels oder bei kulturellen Veranstaltungen verbunden ist.
Rechtliche Zumutung für den Bürger
Diese Vorgehensweise des RKI hat das VG nun als rechtliche Zumutung für den Bürger gebrandmarkt. Die einseitig vom RKI vorgenommene Änderung besitze hohe Grundrechtsrelevanz. Die Maßnahmen tangierten sowohl die gemäß Art. 2 Abs. 1 geschützte allgemeine Handlungsfreiheit, die gemäß Art. 2 Abs. 2 GG geschützte psychische Gesundheit als auch die nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Freiheit der Berufsausübung. Der Genesenennachweis sei nach derzeitiger Rechtslage das einzige wirksame Surrogat zum Impfnachweis und damit Voraussetzung für die Teilnahme des Einzelnen am gesellschaftlichen und sozialen Leben in vielen Bereichen, so beim Besuch von Geschäften des Einzelhandels, beim Besuch von Restaurants und auch für das Aufsuchen der Arbeitsstätte.
§ 2 Nr. 5 SchAusnahmVO in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig
Das VG stellte zunächst klar, dass der Landesverordnungsgeber an die Regelungen der bundesrechtlichen SchAusnahmVO gemäß Art. 31 GG gebunden sei. Damit sei der Landesverordnungsgeber auch an die Definition des Genesenenstatus des § 2 Nr. 5 SchAusnahmVO gebunden. Jedoch sei § 2 Nr. 5 SchAusnahmVO in der Fassung vom 14.1.2022 aus mehreren Gründen verfassungswidrig und entfalte daher keine rechtliche Bindungswirkung.
Wesentlichkeitsgrundsatz verletzt
Die Regelung des § 2 Nr. 5 SchAusnahmVO verstößt nach Auffassung des VG gegen den Wesentlichkeitsgrundsatz des Art. 20 Abs. 3 GG, wonach der Gesetzgeber wesentliche, insbesondere grundrechtsrelevante Sachverhalte selbst regeln muss. § 2 Nr. 5 SchAusnahmVO regle im Verordnungswege Sachverhalte mit erheblicher Grundrechtsrelevanz für die Betroffenen. Die Vorschrift verweise hinsichtlich des Genesenenstatus aber schlicht auf die Vorgaben des RKI, das damit als ein zur Exekutive gehörendes Organ faktisch einseitig erhebliche Grundrechtseingriffe bestimmen könne, wie dies durch die Änderung des Genesenenstatus geschehen sei. Dies sei eine Verletzung des Wesentlichkeitsgrundsatzes.
Unzulässige Subdelegation
Beim Verweis auf die Vorgaben des RKI handele es sich auch um eine verdeckte Subdelegation, die mangels Ermächtigung durch den Gesetzgeber unzulässig sei. § 28c IfSG enthalte lediglich eine Verordnungsermächtigung für die Landesregierungen. In § 2 Nr. 5 SchAusnahmVO habe der Verordnungsgeber die konkrete Ausgestaltung praktisch vollständig dem RKI überlassen. Diese Unterermächtigung sei von der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage nicht gedeckt.
Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes
Nach der Entscheidung des VG verstößt der Verweis auf die Internetseite des RKI auch gegen den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 20 Abs. 3 GG. Betroffene seien praktisch gezwungen, ständig die Internetseite des RKI daraufhin zu überprüfen, ob sich die für sie bestehende Rechtslage geändert habe. Dies sei eine unzumutbare Überforderung für den Normadressaten und mit dem Bestimmtheitsgrundsatz nicht vereinbar.
Wissenschaftliche Begründung unzureichend
Schließlich äußerte das VG erhebliche Zweifel an der Tragfähigkeit der wissenschaftlichen Grundlage für die Verkürzung des Genesenenstatus durch das RKI. Das RKI führe für seine Entscheidung lediglich drei Quellen auf, denen eine Vielzahl von namhaften Stimmen aus Wissenschaft und Praxis entgegenstünden. Auch einzelne Mitglieder des Expertenrates der Bundesregierung verträten die Meinung, dass Genesene einen ebenso guten Schutz vor einer erneuten Infektion besitzen wie Geimpfte.
Widerspruch zu EU-Beschluss
Das VG kam zu dem Ergebnis, dass infolge der wissenschaftlichen Unsicherheit der Verordnungsgeber in Verbindung mit dem RKI auch die ihnen zustehende Einschätzungsprärogative deutlich überschritten hätten. Hierbei sei auch zu beachten, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach der vom RKI beschlossenen Änderung mit Zustimmung der deutschen Delegation einer Anerkennung des Genesenenstatus innerhalb der EU für die Dauer von sechs Monaten zugestimmt haben.
Alter Genesenenstatus von sechs Monaten weiter gültig
Nach Auffassung des VG kommt daher anstelle der verfassungswidrigen Vorschrift des § 2 Nr. 5 SchAusnahmVO in der Fassung vom 14.1.2022 die zuvor geltende Fassung des § 2 Nr. 5 SchAusnahmVO vom 8.5.2021 zur Anwendung, die einen Genesenenstatus von sechs Monaten beginnend 28 Tage nach der durch einen PCR-Test nachgewiesen Corona-Infektion vorsieht. Das VG hat den Landkreis Osnabrück zur Erstellung dieses Nachweises im Wege des einstweiligen Anordnungsverfahrens gegenüber dem Antragsteller verpflichtet und dem Antragsteller gleichzeitig aufgegeben, innerhalb einer Frist von zwei Wochen das Hauptsacheverfahren einzuleiten.
Entscheidung mit möglicherweise bundesweiten Auswirkungen
Rechtliche Verbindlichkeit besitzt die Entscheidung des VG nur zwischen dem Antragsteller und dem Landkreis Osnabrück. Das VG besitzt keine generelle Normverwerfungskompetenz. Dennoch könnte die ausführlich und sorgfältig begründete Entscheidung bundesweite Auswirkungen auch auf mögliche Entscheidungen anderer Gerichte haben.
(VG Osnabrück, Beschluss v. 4.2.2022, 3 B 4/22)
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