Diesel-Fahrverbote können unverhältnismäßig sein
Klägerin des zugrunde liegenden Verfahrens war die Deutsche Umwelthilfe (DUH), Beklagte das Land Baden-Württemberg. Die DUH beanspruchte die Fortschreibung des zuletzt 2018 überarbeiteten Luftreinhalteplans für die baden-württembergische Stadt Reutlingen, die zu dem Verfahren beigeladen war. Die DUH rügte, dass nach dem bisherigen Plan bis weit in das Jahr 2020 die Grenzwerte für den Stickstoffdioxidausstoß in der Stadt Reutlingen deutlich überschritten würden.
VGH verurteilte das Land zur Einführung von Diesel-Fahrverboten
Der VGH Baden-Württemberg hatte die der Klage stattgebende Entscheidung der Vorinstanz bestätigt und das beklagte Land verurteilt, den Luftreinhalteplan unter Berücksichtigung seiner Rechtsauffassung so zu ändern, dass schnellstmöglich die Einhaltung der zulässigen Grenzwerte für Stickstoffdioxid erreicht wird. Als notwendige Maßnahme gehöre hierzu die Einführung eines Fahrverbots für Dieselfahrzeuge auf bestimmten Strecken. Der VGH begründete seine Entscheidung damit, dass die Einhaltung des vorgeschriebenen Grenzwertes mit der bisherigen Planung nicht zu erreichen sei. Die der Planung des Landes Baden-Württemberg zu Grunde liegenden Prognosen, wonach kurzfristig mit einer Einhaltung der Grenzwerte zu rechnen sei, seien weder plausibel noch hinreichend belegt.
Revisionen teilweise erfolgreich
Sowohl das beklagte Land Baden-Württemberg als auch die beigeladene Stadt Reutlingen legten Revision gegen das Urteil ein. Auch in der Revisionsinstanz verurteilte das BVerwG das Land zur Fortschreibung des Luftreinhalteplans, allerdings unter Beachtung der Rechtsauffassung des BVerwG. Das BVerwG bestätigte grundsätzlich die von der Vorinstanz festgestellten Prognosefehler in der Landesplanung.
Dieselfahrverbote nicht zwingend
Trotz der nicht hinreichend belegten Prognosedaten ist nach Auffassung der höchsten deutschen Verwaltungsrichter ein Dieselfahrverbot in Reutlingen nicht zwingend. Bei der Anordnung von Maßnahmen zur Einhaltung der Grenzwerte wie auch bei der Ausgestaltung dieser Maßnahmen sei immer der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Ein Fahrverbot für Dieselfahrzeuge könne in bestimmten Situationen unverhältnismäßig sein. Dies gelte insbesondere dann, wenn aufgrund begründeter Tatsachen mit einer baldigen Einhaltung der Grenzwerte zu rechnen sei. Auch aus dem erst vor kurzem in Kraft getretenen § 47 Absatz 4a BImSchG folge keine andere Beurteilung.
Grenzwerterhöhung durch die Hintertür
Gegenstand des Verfahrens war damit indirekt auch die Reform des BImSchG durch Einführung des § 47 Absatz 4a BImSchG, mit dem die Bundesregierung den EU-Grenzwert für die Stickstoffdioxidbelastung von 40 µg/Kubikmeter Luft durch die Hintertür auf bis zu 50 µg nach oben setzte. Gemäß § 47 Abs. 1 BImSchG werden die zuständigen Behörden verpflichtet, mit Luftreinhalteplänen dafür zu sorgen, dass die gesetzlich festgelegten Toleranzmargen für Luftverunreinigungen nicht überschritten werden. Gemäß dem neu eingefügten § 47 Abs. 4a BImSchG soll die Verhängung eines Fahrverbotes aber dann ausscheiden, wenn nur eine geringe Grenzwertüberschreitung zwischen 41 und 50 µg/Kubikmeter Luft vorliegt. Der VGH Baden-Württemberg hatte in seiner Entscheidung die Gesetzesnovelle noch als Verstoß gegen den Vorrang des Unionsrechts bewertet (VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 18.3.2019, 10 S 1977/18).
Prognostizierte Stickstoffdioxidwerte innerhalb des gesetzlichen Toleranzrahmens
Die in Reutlingen prognostizierten Stickstoffdioxidwerte lagen mit 48 µg in diesem gesetzlichen Toleranzrahmen. Mit seiner Entscheidung hat das BVerwG die europarechtliche Bewertung dieser Vorschrift nun geschickt umschifft. Die Verwaltungsrichter haben die grundsätzliche Intention des Gesetzgebers, die Einführung von Fahrverboten einer gesonderten Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen, mit ihrem Urteil aber indirekt bestätigt. Das BVerwG hat die Verhältnismäßigkeitsprüfung allerdings nicht - wie im Gesetz vorgesehen - an dem zu erwartenden Grad der Grenzwertüberschreitung, sondern an der prognostizierten Dauer der Überschreitung festgemacht und ein Fahrverbot dann für unverhältnismäßig erachtet, wenn mit einer Überschreitung der Grenzwerte nicht über eine längere Dauer zu rechnen ist.
BVerwG fordert strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung
Mit dieser Entscheidung konkretisiert das BVerwG seine bisherigen Dieselentscheidungen, wonach Fahrverbote für umweltbelastende Dieselfahrzeuge grundsätzlich verhängt werden dürfen. Bereits dort hatte das BVerwG bei der Einführung von Dieselfahrverboten eine strikte Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gefordert (BVerwG, Urteile v. 27.2.2018, 7 C 26.16 und 7 C 30.17). Auf der Grundlage dieser Entscheidungen hatten aber einige Verwaltungsgerichte auf Klagen der DUH die verklagten Länder bzw. Städte zur Einführung von Dieselfahrverboten verpflichtet (VG Stuttgart, Urteil v. 28.7. 2017, 13 K 5412/15; VG Wiesbaden, Urteil v. 5.9.2018, 4 K 1613/15; VG Berlin, Urteil v. 9.10.2018, 10 K 207.16).
Kein Automatismus für Dieselfahrverbote
Mit einer an das BVerwG angelehnten Begründung hatte bereits das VG Düsseldorf den Antrag der DUH gegen das Land NRW auf unmittelbare Durchsetzung eines Dieselfahrverbots im Stadtgebiet Düsseldorf auf der Grundlage eines zuvor ergangenen verwaltungsgerichtlichen Urteils abgewiesen (VG Düsseldorf, Beschluss v. 6.9.2018, 3 M 123/18). Mit der jetzigen Entscheidung bestätigte das BVerwG die grundsätzliche Linie, wonach auch bei Überschreitung des EU-Grenzwertes für Stickstoffdioxid den Behörden ein Entscheidungsspielraum hinsichtlich der Anordnung von Fahrverboten bleibt. Einige Autofahrer und auch Oberbürgermeister dürfte die Entscheidung freuen.
(BVerwG, Urteil v. 27.2.2020, 7 C 3.19)
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