Auch schwer straffällige Flüchtlinge dürfen nicht in jedem Fall abgeschoben werden
Drei verschiedene, aber gleich gelagerte Ausgangsfälle fanden ihren Weg zum EuGH und wurden dort miteinander verknüpft zu einer gemeinsamen Entscheidung.
Asylanten waren rechtskräftig wegen schwerer Straftaten verurteilt
In allen drei Sachverhalten begingen Flüchtlinge in dem Land, in dem sie entweder um Asyl baten oder solches bereits genossen, schwere Straftaten:
- Der tschechische Fall:
Ein Tschetschene war nach Tschechien geflüchtet. Dort beging er sowohl vor als auch nach der Gewährung von Asyl einen Raub bzw. einen Raub und eine Erpressung und wurde dafür zu drei und zu neun Jahren Gefängnis verurteilt (Rechtssache C-391/16).
- Zwei Sachverhalte aus Belgien:
Ein Staatsangehöriger der Elfenbeinküste kam in Belgien unter. Auch er wurde mehrfach straffällig und wegen vorsätzlicher Körperverletzung, unberechtigten Besitzes einer Stichwaffe sowie einer verbotenen Waffe und später wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen zu insgesamt sechseinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nach drei Jahren Gefängnis stellte er einen Asylantrag (Rechtssache C-77/17).
Ebenfalls in Belgien spielte der dritte Fall. Ein dort als Flüchtling anerkannter Kongolese machte sich eines schweren Diebstahls in Kombination mit vorsätzlicher Tötung schuldig. Dafür bekam er 25 Jahre Gefängnisstrafe (Rechtssache C-78/17).
Gewünschte Abschiebung durch Aufnahmeländer wegen Gefahr für die Allgemeinheit
Tschechien und Belgien bewerteten die Straftäter als Gefahr für die Allgemeinheit und wollten sie des Landes verweisen. Dagegen wehrten sich die Betroffenen gerichtlich, alle drei mit dem Hinweis darauf, dass sie in ihrem Heimatland Verfolgung mit Gefahr für Leib und Leben zu befürchten hätten. Dies stieß offene Ohren in Luxemburg.
Nach Genfer Abkommen wäre Ausweisung möglich, nach EU-Recht nicht
Die vorlegenden Gerichte in Prag und Brüssel wiesen auf Unterschiede zwischen Unions- und Völkerrecht hin. Nach der von ihnen anzuwendenden EU-Richtlinie 2011/95 könnte
- die Flüchtlingseigenschaft vom Aufnahmestaat zwar aberkannt oder die Zuerkennung abgelehnt werden (Art. 14 Abs. 4, 5).
- Der Flüchtling könne aber nicht des Landes verwiesen werden,
- wenn ihm im Bestimmungsland Folter oder unmenschliche oder erniedrigende und somit nach der EU-Grundrechtscharta verbotene Strafen oder Behandlungen drohten (Art. 21 Abs. 2).
Nach dem Genfer Abkommen hingegen verliert der Flüchtling selbst in diesem Fall sämtliche Rechte und kann ausgewiesen werden (Art. 33 Abs. 2).
Ein Mensch kann „Flüchtling“ sein, aber keine „Flüchtlingseigenschaft“ haben
Diese Diskrepanz führt nach der Entscheidung der EuGH-Richter nicht zur Unwirksamkeit der unionsrechtlichen Regelung.
- Die Aberkennung der „Flüchtlingseigenschaft“ sei ein formeller Akt.
- Mit ihr verliert der Flüchtling die meisten Rechte und Leistungen der EU-Richtlinie.
- Ist der geflohene Mensch in seiner Heimat aber bedroht,
- bleibt es bei seinem materiellen Status als „Flüchtling“;
- er behält quasi ein Basisrecht als Flüchtling
- und darf nicht zurückgeschickt werden, selbst wenn er schwere Straftaten begangen hat.
Der Einklang von Richtlinie und EU-Charta und die Wahrung der Menschenwürde sind den EuGH-Richtern hier wichtiger als eine 100%-ige Konformität mit dem Genfer Abkommen.
(EuGH, Urteil v. 14.5.2019, C-391/16, C-77/17, C-78/17).
Norm:
Art. 21 EU-der Richtlinie 2011/95: Schutz vor Zurückweisung
(1) Die Mitgliedstaaten achten den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen.
(2) Ein Mitgliedstaat kann, sofern dies nicht aufgrund der in Absatz 1 genannten völkerrechtlichen Verpflichtungen untersagt ist, einen Flüchtling unabhängig davon, ob er als solcher förmlich anerkannt ist oder nicht, zurückweisen, wenn
a) es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, oder
b) er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.
(3) Die Mitgliedstaaten können den einem Flüchtling erteilten Aufenthaltstitel widerrufen, beenden oder seine Verlängerung bzw. die Erteilung eines Aufenthaltstitels ablehnen, wenn Absatz 2 auf die betreffende Person Anwendung findet.
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