„Solange“ war viele Jahre das öffentlich-rechtliche Programm für das Verhältnis der bundesverfassungsgerichtlichen zur EU-gerichtlichen Kontrolle europäischer Rechtsakte.
Ausreichende Grundrechtesicherung als Minimalforderung
Solange eine ausreichende Grundrechtesicherung auf europäischer Ebene gewährleistet sei, solange wollte das Bundesverfassungsgericht die Überprüfung europäischen Rechts den europäischen Gerichten überlassen. Viele Kritiker vermuteten, dass das Bundesverfassungsgericht auf lange Sicht eine Konfrontation mit den europäischen Gerichten vermeiden und sich nicht in die Auslegung des europäischen Rechts einmischen wollte.
Doch Ende Dezember bzw. mit einer Pressemitteilung vom 26. Januar war es dann soweit: Das Bundesverfassungsgericht stellte erneut fest, dass die Auslegung europäisch fundierten Rechts immer in Einklang mit den zentralen Grundwerten der deutschen Verfassung stehen müsse und kassierte in diesem Zusammenhang zum ersten Mal eine Auslieferungsentscheidung eines Oberlandesgerichts (BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14).
Die neue Entscheidung zum EU-Haftbefehl
Gegenstand der fachgerichtlichen Entscheidung waren die Vorschriften zum Europäischen Haftbefehl und die Frage, welche Mindeststandards ein Strafverfahren erfüllen muss, damit eine Auslieferung – auch an einen „europäischen Freund“ – rechtmäßig sein kann. Der nach italienischem Recht in Abwesenheit verurteile Beschwerdeführer sollte aufgrund eines europäischen Haftbefehls nach Italien ausgeliefert werden, obwohl erhebliche Zweifel daran bestanden, dass er sich in Italien in einem erneuten Verfahren vollumfänglich verteidigen hätte können.
Dies, so stellte das Bundesverfassungsgericht klar, verletze das Schuldprinzip. Dieses habe seine Wurzeln in der Menschenwürdegarantie und gehöre deshalb zum unantatbaren Kernbereich des deutschen Rechts. Wo Menschenwürde und andere von Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz genannte Grundwerte des deutschen Rechts betroffen seien, da könne sich jeder dem deutschen Recht unterworfene und vom deutschen Recht geschützte Grundrechtsträger auf eine Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts verlassen.
Grenzen staatlicher Machtdelegation
Die staatstheoretische Herleitung dieses Prüfungs- und damit Machtvorbehalts des deutschen Verfassungsgerichts ist überzeugend. Sie funktioniert im Wesentlichen wie folgt: Befugnisse, die selbst der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen sind, kann niemand auf andere übertragen. Der Kern aller Rechtswerte bleibt auch in einem Staatenverbund ein nationales Heiligtum. Zwar ist auch die europäische Staatengemeinschaft und die damit einhergehende Europäisierung des Rechts ein Verfassungswert, den es zu schützen und zu unterstützen gilt. Aber niemals darf diese Übertragung staatlicher Macht dazu führen, dass die in der Menschenwürde gründenden wesentlichen Prinzipien des Verhältnisses zwischen Staat und Einzelnem antastbar werden, weil ihre Kontrolle vollständig auf zwischenstaatliche Akteure, wie etwa den Europäischen Gerichtshof, übergegangen ist.
Nicht zufällig traf es das Straf- und Strafprozessrecht
Es ist kein Zufall, dass die verfassungsgerichtliche Bekräftigung des Rechts und der Pflicht zur Überprüfung europäischer Rechtsakte zuerst das strafrechtliche Prinzip des Schuldgrundsatzes in den Blick nehmen musste. Kein Rechtsgebiet stellt eine so große und so andauernde Gefahr der Instrumentalisierung und Verletzung der Würde des Einzelnen dar wie das Straf- und das Strafprozessrecht. Nirgendwo sonst ist das erklärte Ziel eines vom Staat eingeleiteten rechtsförmigen Verfahrens die tadelnde Zufügung eines Übels durch ein Urteil. Losgelöst von der durch den Gesetzgeber postulierten, doch kaum je widerspruchsfrei begründeten, Notwendigkeit zu strafen, hilft der deutsche Staat bei der Vollstreckung von Urteilen aus Ländern, deren prozessuale Fairness und sonstige Rechtsstaatlichkeit zunächst nicht mehr als ein Versprechen an einen anderen Staat sind, einer Vereinbarung, die sich also für den Betroffenen wie ein Vertrag zu Lasten Dritter anfühlen muss.
Wie weit reicht die Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht?
Die nun unausgesprochen im Raum stehende Frage lautet: In welchen Fällen mit Europarechtsbezug wird das Bundesverfassungsgericht in Zukunft ebenfalls das Schuldprinzip berührt sehen? Ist der Kern des völkerrechtlich nicht übertragbaren Gehalts deutscher Rechtswerte schon bekannt oder wird sich die Rechtsprechung zum Europäischen Haftbefehl im Wesentlichen auf prozessuale Garantien beschränken?
Konsequent zu Ende gedacht wäre das Bundesverfassungsgericht in Zukunft gehalten, bei Auslieferungsentscheidungen unter Umständen auch zu prüfen, ob die Vollstreckung der drohenden Strafe – und nicht bloß der Prozess – die Menschenwürde des Betroffenen verletzen kann. Zu denken wäre hier insbesondere an Strafrahmen, die die in Deutschland als verfassungsrechtlich notwendig erkannten Grenzen weit überschreiten.
Weg eines dezenten Rechtsstaatlichkeitssexports?
Zu hoffen ist, dass das Bundesverfassungsgericht diesen Weg eines dezenten deutschen Rechtsstaatlichkeitssexports weiter verfolgen wird. Mindeststandards, die in Deutschland über lange Jahre erkämpft und für ewig gültig erklärt sind, müssen, zunächst politisch, aber im Notfall auch durch rechtlichen Zwang bewahrt werden. Diese Werte haben erst die Möglichkeit erschaffen, in einer supranationalen Ordnung für Frieden und Gerechtigkeit einzustehen. Sie vollständig in die Hand Dritter zu geben, wäre eine kleine Revolution durch Unterlassen, eine beklagenswerte Aufgabe eines über viele Jahre erkämpften maßvollen Strafrechts durch eines der politischen Schwergewichte eines vereinten Europas.
Vgl. auch:
Sind ausländische Sorgerechtsentscheidungen auch in Deutschland gültig?