BVerfG erklärt anlasslose BND-Auslandsüberwachung für teilweise verfassungswidrig
Die Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen (ROG) mit Sitz in Frankreich, die sich weltweit im Kampf der Pressefreiheit auf die Fahnen geschrieben hat, mehrere ausländische Journalisten sowie ein deutscher Menschenrechtsanwalt führen beim BVerfG Verfassungsbeschwerde wegen der weitreichenden Befugnisse des BND bei der strategischen Fernmeldeaufklärung Ausland. Die Kläger wurden unterstützt von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), dem Deutschen Journalistenverband sowie verschiedenen weiteren Verbänden.
Spektakulärer Erfolg der Reporter vor dem BVerfG
Vor dem höchsten deutschen Gericht waren die Beschwerdeführer mit ihrer Verfassungsrüge nun in großem Umfang erfolgreich. Nach der Entscheidung der Verfassungsrichter sind wesentliche Regelungen der strategischen BND-Fernmeldeaufklärung mit dem deutschen GG nicht vereinbar. Einzige bittere Pille für die Beschwerdeführer: Zur Sicherung der politischen Handlungsfähigkeit der Bundesregierung hat das BVerfG angeordnet, dass die beanstandeten Vorschriften trotz ihrer Verfassungswidrigkeit vorläufig fortgelten, längstens jedoch bis zum 31.12.2021.
Anlasslose Überwachung nur gegenüber Ausländern zulässig
Kern des verfassungsrechtlichen Verfahrens war die die bisherige und vorläufig für eine Übergangsfrist weiterhin gestattete Überwachungspraxis des BND im Rahmen der Fernmeldeaufklärung im Ausland. Dabei durchforstet der BND anlasslos, ohne konkreten Verdacht nach Bedarf Datenströme in Netzen außerhalb der BRD. Sogenannte Selektoren überwachen das Netz nach Suchbegriffen ständig automatisch, u.a. durch Anzapfen des Netzknotenpunktes Frankfurt.
Ein wesentlicher Punkt der Verfassungsrüge der Beschwerdeführer im anhängigen Verfahren: Die Ergebnisse gibt der BND auf Anfrage auch an ausländische Partnerdienste weiter. Der Vertreter der Bundesregierung, Joachim Wieland, erklärte in der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG hierzu, wer von ausländischen Geheimdiensten Informationen erhalten wolle, müsse umgekehrt auch etwas bieten. Alles andere sei unrealistisch.
BND-Gesetz ist Rechtsgrundlage der anlasslosen Auslandsüberwachung
Der BND ist der deutsche Auslandsgeheimdienst. Er verfügt über ca. 6.500 Mitarbeiter und informiert die Bundesregierung ständig über Entwicklungen von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung. Bis zum Jahr 2017 erfolgte die Auslandsüberwachung ohne Rechtsgrundlage.
Seit der Reform des BND-Gesetzes im Jahr 2017 wird die anlasslose Auslandsüberwachung in §§ 6 ff BNDG geregelt und für grundsätzlich zulässig erklärt, soweit die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung erforderlich ist, um frühzeitig Gefahren für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu erkennen und Erkenntnisse von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung zu gewinnen, § 6 Abs. 1 BNDG. Rechtmäßigkeitskontrollen für konkrete Maßnahmen sieht das Gesetz nur sehr begrenzt vor.
Hinweis: Ausland-Ausland-Fernmeldeüberwachung bedeutet, dass die Telekommunikation ausländischer Personen im Ausland vom Ausland aus durch den BND überwacht wird.
Beschwerdeführer rügen Verletzung ihrer Grundrechte
Die Beschwerdeführer sehen durch diese grenzenlose Überwachung sowohl das durch Art. 10 Abs. 1 GG geschützte Fernmeldegeheimnis als auch die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geschützte Pressefreiheit verletzt. Die Beschwerdeführer griffen mit ihrer Verfassungsbeschwerde die Regeln über die Durchführung der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, die Regeln über die Kooperation mit ausländischen Nachrichtendiensten und die Praxis der Übermittlung personenbezogener Daten an in- und ausländische Stellen an.
Beschwerdeführer forderten u.a. den Schutz von Informanten
Die Überwachung sämtlicher Medien im Ausland hat nach Darstellung der Beschwerdeführer eine einschüchternde Wirkung auf mögliche Informanten. Journalisten seien auf Informationsquellen angewiesen, die häufig anonym bleiben wollten. Journalisten wie Informanten müssten aufgrund der grenzenlosen Kontrollen befürchten, dass ihre Kommunikation jahrelang gespeichert und - noch schlimmer - an ausländische Geheimdienste weitergegeben wird.
Die Beschwerdeführer wollen beim BVerfG erreichen, dass Überwachungsmaßnahmen des BND in Zukunft nur noch bei konkretem Verdacht einer Verstrickung der überwachten Personen in rechtswidrige Zusammenhänge zulässig sind.
Die Bundesregierung verweist auf staatliche Sicherheitsbedürfnisse
Der Kanzleramtsminister Braun wies vor Gericht darauf hin, dass die Überwachung im Ausland für den BND von essenzieller Bedeutung sei. Durch BND-Informationen hätten beispielsweise schon einige Anschläge auf Bundeswehrsoldaten in Afghanistan verhindert werden können. Auch im Fall von Entführungen und von Terrorgefahren hätten die auf diese Weise gewonnenen Informationen bereits wichtige Dienste geleistet.
BND-Präsident Bruno Kahl bezeichnete die strategische Fernmeldeaufklärung im Ausland als unverzichtbaren Bestandteil der BND-Beiträge zum Lagebild für die Bundesregierung. Ein globalisiertes Grundrechtsverständnis würde die Effektivität der Arbeit des BND in inakzeptabler Weise gefährden. Der BND vertraue „auf die Weisheit des Gerichts“, das zu erkennen.
Kernfrage: Gelten deutsche Grundrechte auch für Ausländer?
Das BVerfG hatte insbesondere die Frage zu prüfen, inwieweit deutsche Grundrechte auch für im Ausland lebende Ausländer gelten. Die Beschwerdeführer vertreten insoweit die Auffassung, dass die Grundrechte des Fernmeldegeheimnisses und der Pressefreiheit als Menschenrechte auch für Ausländer im Ausland Geltung beanspruchen. Die gesetzliche Regelung enthalte eine umfassende Ermächtigungsgrundlage des BND zur Verarbeitung und zur Speicherung von Telekommunikationsdaten, ohne dass die bei der Einschränkung von Grundrechten erforderliche formale und inhaltliche Bestimmtheit der Voraussetzungen für einen Eingriff auch nur annähernd gegeben seien.
Die Kommunikation von Ausländern im Ausland sei durch die gesetzliche Regelung für den BND „zum Abschuss freigegeben“. Auch würde der Schutz der Kommunikation von Berufsgeheimnisträgern sowie der Schutz von deutschen Staatsangehörigen durch die gesetzliche Regelung in keiner Weise gewahrt.
Hinweis: Die Überwachung der Telekommunikation deutscher Staatsangehöriger ist im sogenannten Art. 10-Gesetz (G 10) geregelt und an strenge Voraussetzungen (konkreter Verdacht schwerer Straftaten) gebunden. § 6 Abs. 4 BNDG bestimmt insoweit, dass die Erhebung von Daten über die Kommunikation von deutschen Staatsbürgern auch im Rahmen der Auslandsüberwachung unzulässig ist mit der Folge, dass solche Daten, die bei der Überwachung versehentlich mitgespeichert werden, sofort wieder gelöscht werden müssen.
Spektakulär eindeutige Antwort des BVerfG
Das BVerfG hat unter Federführung des für das Verfahren zuständigen Berichterstatters, Bundesverfassungsrichter Johannes Masing, auf die Frage der universalen Geltung der Grundrechte eine Antwort gegeben, deren Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt: Nach der Entscheidung des BVerfG ist die Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG nicht auf das deutsche Staatsgebiet begrenzt. Als Abwehrrechte gegenüber einer übergriffigen Telekommunikationsüberwachung erstreckt sich der Schutz der Grundrechte nach dem Urteil auch auf Ausländer im Ausland. Dies gilt unabhängig davon, ob die Überwachung vom Inland oder vom Ausland aus erfolgt.
BND-Gesetz formell und inhaltlich verfassungswidrig
Die Verfassungsrichter hatten in der mündlichen Verhandlung bereits zu erkennen gegeben, dass die Verfassungsbeschwerde wohl nicht daran scheitern wird, dass Grundrechte für Ausländer keinerlei Geltung hätten. Nun haben sie den Gesetzgeber zusätzlich dafür gerügt, dass er bei Erlass der Vorschriften zur Auslandsüberwachung offensichtlich von der Nichtgeltung der Grundrechte im Rahmen dieser Vorschriften ausgegangen sei. In der Folge entspräche das Gesetz weder formal noch inhaltlich den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
Formale Verfassungswidrigkeit
Die formale Verfassungswidrigkeit ergibt sich nach der Entscheidung des BVerfG daraus, dass das Gesetz zu Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 Abs. 1 GG ermächtigt, ohne dass das Gesetz das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG berücksichtigt. Dies zeige, dass dem Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes schon das Bewusstsein gefehlt habe, mit der gesetzlichen Regelung zu Grundrechtseingriffen zu ermächtigen. Exakt an diesem Mangel zeige sich der Sinn des Zitiergebotes.
Inhaltliche Verfassungswidrigkeit
Auch inhaltlich genügen die Ermächtigungsvorschriften nach der Bewertung des BVerfG den Anforderungen des GG nicht. Hierbei unterschieden die Verfassungsrichter zwischen den verschiedenen Befugnissen, nämlich den Regelungen zur Telekommunikationsüberwachung als solchen, den Regelungen zur Übermittlung personenbezogener Daten an andere Stellen, und den Vorschriften zur Kooperation mit ausländischen Diensten.
Auslandskommunikationsüberwachung nicht verzichtbar
Nach der Entscheidung des BVerfG ist die strategische Auslandskommunikationsüberwachung eine Maßnahme von besonders schwerem Eingriffsgewicht. Mit diesem Instrument werde
- heimlich in persönliche Kommunikationsbeziehungen eingedrungen,
- die Überwachung habe eine außerordentliche Streubreite,
- sie sei anlasslos gegenüber jedermann einsetzbar
- ohne objektive Eingriffsschwellen.
Das heißt nach dem Urteil der Verfassungsrichter aber nicht, dass die strategische Überwachung im Rahmen der Auslandsaufklärung als überragendes öffentliches Interesse grundsätzlich verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden könne. Die Auslandsaufklärung diene der Früherkennung von Gefahrenlagen aus dem Ausland, sei es durch politische Organisationen oder auch durch international agierende kriminelle Gruppierungen. Sie sei für ein funktionierendes Staatswesen u.a. aus Gründen des Eigenschutzes des Staates deshalb unverzichtbar.
Vorgaben des BVerfG an den Gesetzgeber
Der Gesetzgeber muss nach den Vorgaben der Verfassungsrichter solche im Grundsatz zulässige Überwachungsmaßnahmen aber rechtskonform ausgestalten und hierbei u.a. folgende flankierende Regelungen treffen:
- Begrenzung des Volumens der auszuwertenden Daten;
- Eingrenzung der jeweiligen Überwachung auf konkrete geographische Gebiete;
- technisch sichere Aussortierung jeglicher Inlandskommunikation, an der mindestens ein Deutscher oder Inländer beteiligt ist;
- präzise und normenklare Benennung der Überwachungszwecke;
- Strukturierung und Festlegung der zulässigen Überwachungsmaßnahmen (unverzügliche Auswertung, Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Auswahl der Suchbegriffe);
- Regelung der Speicherung und Bevorratung von Verkehrsdaten (höchstzulässige Speicherdauer sechs Monate).
Schutz besonderer Personengruppen
Besonderen Wert legte das BVerfG auf die besondere Berücksichtigung des Schutzbedürfnisses bestimmter Personengruppen, wie Journalisten oder Rechtsanwälten. Hier seien qualifizierte Eingriffsschwellen zu schaffen, die dem erforderlichen Schutz der besonderen Vertraulichkeit der Beziehungen dieser Personengruppen gerecht werde. Aber auch im Übrigen habe der Gesetzgeber dem Schutz eines unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung durch entsprechende Regelungen Rechnung zu tragen.
Übermittlung personenbezogener Daten
Die Verfassungsrichter stellten klar, dass die Übermittlung personenbezogener Daten aus der strategischen Überwachung an andere Stellen einen eigenständigen Grundrechtseingriff darstellen und deshalb einer eigenständigen, hinreichend bestimmten Rechtsgrundlage bedürfen. Ziel der Übermittlung dürfe nur der Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter sein. Dies gelte besonders für die Übermittlung personenbezogener Daten an ausländische Stellen. Hier müsse der Gesetzgeber eine Vergewisserung der übermittelten Behörde über den rechtsstaatlichen Umgang mit den Daten auf Empfängerseite vorschreiben. Eine Ausnahme stelle die Übermittlung personenbezogener Daten unmittelbar an die Bundesregierung dar. Diese sei aus Gründen der politischen Information und der Vorbereitung von Regierungsentscheidungen ohne weiteres zulässig.
Völkerrechtliche Kooperation der Dienste
Auch hier verlangt BVerfG klare gesetzliche Regelungen. Die Kooperation mit ausländischen Diensten sei zwar grundsätzlich erlaubt, ein regelrechter Ringtausch von Informationen - wie er häufig praktiziert werde - sei aber verfassungsrechtlich nicht zulässig. Die Verantwortung des BND für die von ihm erhobenen und ausgewerteten Daten müsse grundsätzlich auch nach einer Weitergabe oder beim Empfang der Information aus einem anderen Land erhalten bleiben. Das BVerfG schloss u.a. das bisherige Schlupfloch der „Third Party Rule“. Nach dieser Regel hatten Bundesregierung und BND bisher Informationen, an deren Beschaffung ausländische Dienste beteiligt waren, nur herausgegeben, wenn das entsprechende Land die Zustimmung gab, was in der Praxis eher selten vorkam. An der fehlenden Zustimmung der USA scheiterte beispielsweise eine effektive Aufklärung des NSA-Skandals im Untersuchungsausschuss des Bundestags.
Unabhängige Kontrollinstanz für BND-Auslandsüberwachung erforderlich
Ein besonderes Augenmerk richtete das BVerfG auf das Fehlen von Auskunftsansprüchen Betroffener gegenüber den Nachrichtendiensten. Von solchen Auskunftsansprüchen könne der Gesetzgeber zum Zwecke der wirksamen Aufgabenwahrnehmung der Nachrichtendienste grundsätzlich absehen. Hierin liege allerdings eine deutliche Rechtsschutzverkürzung für die Betroffenen. Als Ausgleich müsse der Gesetzgeber für eine unabhängige objektivrechtliche Kontrolle durch ein Gremium sorgen, das mit einem eigenen Budget, einer eigenen Personalhoheit sowie eigener Verfahrensautonomie versehen sei. Dieses Gremium müsse in letzter Konsequenz befugt sein, Beanstandungen und Kritik in abstrakter, die Geheimhaltung gewährleistender Weise auch an das Parlament und an die Öffentlichkeit zu tragen.
Gesetzgeber muss bei der Auslandsüberwachung kräftig nachbessern
Im Ergebnis hat das BVerfG damit die Ausland-Ausland- Telekommunikationsüberwachung zwar in ihrer bisherigen Form für verfassungswidrig erklärt, aber nicht grundsätzlich gekippt. Das Gericht fordert nun bis Ende 2021 vom Gesetzgeber eine dezidierte gesetzliche Konkretisierung und Begrenzung der Voraussetzungen für die strategische Fernmeldeaufklärung Ausland.
(BVerfG, Urteil v. 19.5.2020, 1 BvR 2835/17).
Hintergrund: Sicherheitsinteressen des Staates
Das BVerfG erkannte die Sicherheitsinteressen des Staates schon in einem früheren Urteil (v. 20.4.2016, 1 BvR 966/09; 1 BvR 1140/09) grundsätzlich an. Es betont darin das Recht und sogar die Pflicht des Gesetzgebers, die Bevölkerung durch rechtliche Maßnahmen vor Terrorgefahren zu schützen. Der Schutz der Allgemeinheit sei eine der wesentlichen Aufgaben sowohl der Legislative als auch der Exekutive.
Hierbei seien zur Abwendung von Gefahren auch Eingriffe in verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen der Bürger zulässig. Die Voraussetzungen, unter denen solche Eingriffe zulässig seien, müssten rechtlich aber möglichst exakt definiert und hierbei strikt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. An exakt diesen Grundsätzen orientiert sich auch das aktuelle Urteil zur strategischen Ausland-Fernmeldeaufklärung. Der BND selbst reagierte auf das Urteil zunächst verhalten und befürchtet für die Zukunft eine erhebliche Zurückhaltung ausländischer Geheimdienste bei der Zusammenarbeit mit Deutschland.
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