Pushbacks: EGMR erlaubt überraschend die Sofortabschiebung von Flüchtlingen
Von Pushbacks spricht man, wenn Flüchtlinge sofort während oder unmittelbar nach dem Grenzübertritt abgeschoben werden, ohne dass deren Flüchtlingseigenschaft geprüft wird oder sie die Möglichkeit haben, einen Asylantrag im Zielland zu stellen.
Flüchtlinge überwanden drei Grenzzäune zu Spanien
Im konkreten Fall ging es um zwei Migranten aus Mali bzw. von der Elfenbeinküste, die von Marokko aus über drei Zäune zu der auf dem afrikanischen Kontinent gelegenen spanischen Enklave Melilla geklettert waren. Die beiden Flüchtlinge gehörten zu einer Gruppe von ca. 70-80 Flüchtlingen, die sämtlich die Zäune überkletterten. Die spanische Guardia Civil erwartete die Flüchtlinge unmittelbar hinter dem dritten Zaun, nahm sie dort auf spanischem Hoheitsgebiet fest und verbrachte sie gewaltsam wieder zurück hinter die Grenze.
EGMR-Kammer erklärte Pushbacks für rechtswidrig
Im Jahr 2017 hatte der EGMR auf die Beschwerde der beiden Afrikaner diese Praxis der spanischen Polizei für rechtswidrig erklärt. Das Gericht rügte mehrere Verstöße gegen die EMRK. Nach der Einschätzung des Gerichts verstieß das Verhalten der spanischen Guardia Civil
- gegen das Verbot der Kollektivausweisung gemäß Art. 4 des vierten Zusatzprotokolls zur EMRK sowie
- gegen das Recht auf wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK.
Durch die sofortige Zurückschiebung sei den Flüchtlingen jede Möglichkeit verwehrt worden, im Zielstaat Spanien die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahmen überprüfen zu lassen oder dort Anträge auf Asyl zu stellen. Außerdem stelle die sofortige Abschiebung von 70-80 Personen eine Kollektivausweisung dar, die nach Art. 4 des Vierten Zusatzprotokolls der EMRK verboten sei (EGMR, Urteil v. 3.10. 2017, 8675/15).
Große Kammer am EGMR korrigiert die Vorinstanz
Die spanische Regierung beantragte nach Erlass des Urteils Verweisung an die Große Kammer des EGMR, so dass die mit 17 Richtern besetzte Große Kammer des EGMR abschließend über den Fall zu entscheiden hatte. Für die meisten Prozessbeobachter überraschend revidierte der EGMR die erstinstanzliche Entscheidung des Gerichts mit einer ebenso überraschenden Begründung.
Flüchtlinge haben die Pushbacks selbst verschuldet
Nach Auffassung der Großen Kammer hatten die Flüchtlinge ihre sofortige Zurückweisung durch die spanische Polizei durch ihr Verhalten provoziert, waren also selbst schuld. Die Überwindung der marokkanisch/spanischen Grenze durch Überklettern der Zäune im August 2014 bewerteten die Richter als illegale Grenzübertritte. Wer auf illegale Weise rechtswidrig den Boden der EU betritt, kann nach Auffassung der Großen Kammer, nicht die Rechte der EU für sich reklamieren. Dies gelte jedenfalls dann, wenn
- das Einreiseland eine legale Möglichkeit zum Grenzübertritt bereitgestellt habe und
- keine zwingenden Gründe für das illegale Überschreiten der Grenze ersichtlich seien.
Im August 2014 habe die spanische Regierung für den rechtmäßigen Grenzübertritt ein „Botschaftsverfahren“ zur Verfügung gestellt, dass die Beschwerdeführer nach Auffassung des Gerichts ohne weiteres hätten nutzen können. Für den illegalen Grenzübertritt gebe es daher keine Rechtfertigung.
Guardia Civil handelte auf gesetzlicher Grundlage
Darüber hinaus verwiesen die Richter auf das im Jahr 2015 in Spanien in Kraft getretene „Gesetz zum Schutz der Bürgersicherheit“. Dieses gestatte ausdrücklich die sofortige Rückführung von Personen, die illegal die Grenze übertreten. Dass ein Staat sich durch ein solches Gesetz vor illegalen Grenzübertritten schütze, sei nicht zu beanstanden. Das Handeln der Guardia Civil sei daher rechtmäßig gewesen, zumal aufgrund der massenhaften Grenzübertritte - durch 70-80 Personen gleichzeitig - die Gefahr bestanden habe, dass die Lage dort außer Kontrolle gerate. Vor solchen nicht mehr kontrollierbaren, chaotischen Situationen, müsse ein Staat sich durch ein entsprechendes Gesetz schützen können.
(EGMR, Urteil v. 13.2.2020, 8675/15).
Hintergrund: Spanische Enklaven in Nordafrika
In Nordafrika existieren zwei spanische Enklaven. Ceuta an der Meerenge von Gibraltar sowie das 250 km östlich hiervon gelegene Melilla. Unmittelbar an der Grenze befinden sich Auffanglager für Flüchtlinge, in denen nach Berichten verschiedener Menschenrechtsorganisationen menschenunwürdige Zustände herrschen und die völlig überfüllt sind. Im Auffanglager Melilla hatten die Beschwerdeführer mehr als ein Jahr ausgeharrt und vergeblich auf einen Zugang zum Botschaftsverfahren gewartet, bevor sie über den Zaun kletterten.
Menschenrechtsanwälte beklagen Realitätsverlust des EGMR
Menschenrechtsanwälte halten die Begründung des EGMR für befremdlich.
Weder im Jahr 2014 noch in den Folgejahren habe es andere realistische Möglichkeiten zum Grenzübertritt von Marokko nach Spanien gegeben als die durch Überklettern der Grenzzäune.
Das Botschaftsverfahren sei eine Farce, weil für die Masse der Flüchtlinge nicht zugänglich. Die Kritik der Menschenrechtsanwälte an der Entscheidung des EGMR findet prominente Unterstützung durch den Hochkommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen, Wolfgang Kaleck. Wer vor Bürgerkrieg und Verfolgung fliehe – so Kaleck - befinde sich nicht in der Lage, auf reguläre, komplexe Einreiseformalitäten zu achten. Der Hochkommissar bezeichnete das Urteil des EGMR schlicht als „weltfremd“.
Die verschiedenen Spruchkörper des EGMR
Der EGMR entscheidet über Beschwerden wegen Verletzung der EMRK in verschiedenen Zusammensetzungen:
- Ein Einzelrichter kann eine offensichtlich unzulässige Beschwerde abweisen, darf aber nicht aus dem Staat kommen, der Partei des Beschwerdeverfahrens ist, Art. 27 EMRK.
- Der sogenannte Ausschuss, besetzt mit drei Richtern, entscheidet über Beschwerden, zu denen bereits eine ständige Rechtsprechung des EGMR existiert, Art. 28 EMRK.
- Über eingereichte Beschwerden von Staaten oder Privatpersonen entscheidet in der Regel die Kammer, besetzt mit sieben Richtern, Art. 29 EMRK.
- Die Große Kammer, besetzt mit 17 Richtern, ist u.a. zuständig für Beschwerdeverfahren, die von einer Kammer wegen schwerwiegender Fragen bei der Auslegung der Konvention oder zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung des EGMR zur Entscheidung an die Große Kammer abgegeben werden, Art. 30, 31, 43 EMRK. Daneben ist sie zuständig, wenn eine Partei - wie im anhängigen Fall – innerhalb von drei Monaten nach dem Datum des Urteils der Kammer die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer beantragt, Art. 43 EMRK.
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