Gröning und die neue BGH-Rechtsprechung zu NS-Verbrechen
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die deutsche Justiz mit der Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts äußerst schwer getan. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der BGH, der in einem Grundsatzurteil in den sechziger Jahren bereits entschieden hatte, dass Bedienstete des NS Regimes, die in einem Konzentrations- oder Vernichtungslager „irgendwie tätig“ waren, nicht allein deshalb wegen der Beteiligung an nationalsozialistischen Verbrechen verurteilt werden dürfen.
Bisherige BGH-Rechtsprechung
Jedem einzelnen müsse ein konkreter Tatbeitrag zu einer Tötung nachgewiesen werden, nur dann sei eine Verurteilung möglich (BGH, Urteil v. 20.2.1969, 2 StR 280/67).
Die Folge dieser Rechtsprechung war, dass in der Bundesrepublik Deutschland von ehemals ca. 7.500 Aufsehern von Konzentrationslagern bisher gerade mal 29 rechtskräftig verurteilt wurden - angesichts der Schwere und Ungeheuerlichkeit der Vorwürfe eine für die Opfer und Hinterbliebenen traurige Bilanz.
Der Demjanjuk-Prozess läutete eine Wende ein
Das Gericht verurteilte den gebürtigen Ukrainer John Demjanjuk als Wachmann des Konzentrationslagers Sobibor wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Personen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren (LG München, Urteil v. 12.5.2011, 1 Ks 12496/08).
Das LG München argumentierte, der Angeklagte habe sich wissentlich und willentlich in das Räderwerk einer Tötungsmaschinerie einspannen lassen und habe sich daher der Beihilfe schuldig gemacht. Dieses Urteil wurde allerdings nicht rechtskräftig, weil Demjanjuk während des Revisionsverfahrens verstarb. Deshalb stand seither eine höchstrichterliche Entscheidung zur Bewertung der Argumentation des LG München aus.
BGH beendet die bestehende Rechtsunsicherheit
Die seit München bestehende Unsicherheit in der rechtlichen Bewertung hat der BGH nun endgültig beendet. Der nun vom BGH entschiedenen Fall betrifft den SS-Mann Oskar Gröning, der im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau unter anderem im Rahmen der sogenannten Ungarn Aktion eingesetzt war. In der Zeit vom 16. Mai bis zum 11. Juli 1944 führte das nationalsozialistische Regime eine Aktion zur massenhaften Tötung der in Ungarn lebenden Juden durch. Mindestens 300.000 Juden wurden in dieser Zeit nach Auschwitz deportiert und in Gaskammern ermordet. Der Angeklagte Oskar Gröning hatte sich freiwillig zur SS gemeldet, weil er auf diese Weise seinen Einsatz an der Front vermeiden konnte. In Auschwitz war er mit verschiedenen Aufgaben betraut. Wegen dieser Tätigkeiten hatte das LG Lüneburg den Angeklagten wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt (LG Lüneburg, Urteil v. 15.7.2015, 1327 Ks 9/14).
Entscheidung von historischer Dimension
Diese Entscheidung hat der BGH auf die von einigen Nebenklägern und dem Angeklagten eingelegte Revision nun bestätigt. Die Entscheidung des BGH ist als historisch zu bezeichnen. denn zum ersten Mal hat das höchste deutsche Strafgericht entschieden, dass derjenige, der sich
- Als Teil „quasi industriell ablaufender Mechanismen“
- in einen „organisierten Tötungsapparat“ einspannen lässt,
- Beihilfe zu den in diesem Rahmen ablaufenden Verbrechen begeht,
- auch wenn er persönlich niemanden unmittelbar umgebracht hat.
Der Senat betont in seinem Beschluss: “Nur weil ihnen eine derart strukturierte und organisierte industrielle Tötungsmaschinerie mit willigen und gehorsamen Untergebenen zur Verfügung stand, waren die nationalsozialistischen Machthaber überhaupt in der Lage, die Ungarn-Aktion anzuordnen und in der geschehenen Form auch durchführen zu lassen“.
Vielfältig in die Tötungsmaschinerie eingespannt
Konkret hat der BGH die Vorwürfe gegen den Angeklagten Gröning wie folgt zusammengefasst:
- An mindestens drei Tagen war der Angeklagte an der Rampe eingesetzt, an der die Züge mit den Deportierten ins Lager kamen. Dort sollte er das Gepäck der Deportierten bewachen, um Plünderungen vor den Augen der Opfer zu verhindern. Auf diese Weise sollten Unruhe und Protest der Deportierten vermieden und eine äußere Ruhe bewahrt werden.
- Gleichzeitig war der Angeklagte bei seiner Tätigkeit an der Rampe auch Teil einer Drohkulisse, die jeden Gedanken an Flucht oder Widerstand bereits im Keim ersticken sollten.
- Im Falle einer Flucht wäre der Angeklagte gehalten gewesen, jegliche Flucht und jeglichen Widerstand mit Waffengewalt zu verhindern.
- Der Angeklagte war der Buchhalter von Auschwitz, weil er die Vermögenswerte der Deportierten säuberlich auflistete und hierüber Vermögensverzeichnisse erstellte.
Der Gröning-Prozess war anders als andere
Der gegen den Angeklagten Gröning geführte Prozess wies einige Besonderheiten auf:
- Im Gegensatz zu vergleichbaren Prozessen bekannte sich der Angeklagte zu einer moralischen Mitschuld
- In einer Aufsehen erregenden Geste hatte die Nebenklägerin Eva Mozes Kor, die das KZ Auschwitz zusammen mit ihrer inzwischen an den gesundheitlichen Folgen verstorbenen Zwillingsschwester, überlebt hatte, dem Angeklagten verziehen und diesem die Hand gereicht
(BGH, Beschlüsse vom 20.9.2016, 3 StR 49/16).
Das Urteil hat Folgen auch für andere Verfahren
Oberstaatsanwalt Jens Rommel, Leiter der Zentralstelle der Länder zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, kündigte nach der Urteilsverkündung die Überprüfung weiterer noch lebender Mitglieder des Wachpersonals von Konzentrationslagern an. Darüber hinaus dürfte die Entscheidung des BGH Einfluss auf die Revision gegen ein Urteil des LG Detmold haben, das einen weiteren früheren Wachmann des Konzentrationslagers Auschwitz, Reinhold Hanning, zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord in 170.000 Fällen verurteilt hat (LG Detmold, Urteil v. 17.6.2016, 4 Ks-45 Js 3/13-9/15).
Vollstreckung der Haft ist eher fraglich
Ob die ehemaligen NS-Schergen Gröning und Hanning, beide weit über 90 Jahre alt, überhaupt eine Haft antreten müssen, erscheint angesichts ihres Gesundheitszustandes äußerst fraglich. Für die jüdischen Opfer und deren Angehörige ist die Entscheidung des höchsten deutschen Strafgerichts dennoch von eminenter Bedeutung, dienen sie doch der - wenn auch späten - Aufarbeitung einer schier unerträglichen Vergangenheit.
Hintergrund:
§ 455 Strafausstand wegen Vollzugsuntauglichkeit
(1) Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist aufzuschieben, wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt.
(2) Dasselbe gilt bei anderen Krankheiten, wenn von der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen ist.
(3) Die Strafvollstreckung kann auch dann aufgeschoben werden, wenn sich der Verurteilte in einem körperlichen Zustand befindet, bei dem eine sofortige Vollstreckung mit der Einrichtung der Strafanstalt unverträglich ist.
(4) 1Die Vollstreckungsbehörde kann die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe unterbrechen, wenn
1. der Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt,
2. wegen einer Krankheit von der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen ist oder
3. der Verurteilte sonst schwer erkrankt und die Krankheit in einer Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus nicht erkannt oder behandelt werden kann und zu erwarten ist, daß die Krankheit voraussichtlich für eine erhebliche Zeit fortbestehen wird. Die Vollstreckung darf nicht unterbrochen werden, wenn überwiegende Gründe, namentlich der öffentlichen Sicherheit, entgegenstehen.
Hinweis: Bei der Haftverschonung ist eine eine Gesamtabwägung durchzuführen,
- bei der die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs einerseits
- und das Interesse des. Verurteilten an der Wahrung seiner verfassungsmäßig verbürgten Rechte, insbesondere seiner durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gesundheit, andererseits gegenüberzustellen sind
- und nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein Interessenausgleich herbeizuführen ist.
Das Interesse des Gefangenen an der Wahrung seines Grundrechtes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kann jedoch nur dann überwiegen, wenn angesichts seines Gesundheitszustandes zu befürchten ist, dass er wegen der Fortsetzung der Strafvollstreckung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen wird (KG Berlin, Beschluss vom 05.02.2013 , 2 Ws 41/13 -141 AR 17/13).
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