Ein wegen Mordes Verurteilter musste aus der U-Haft entlassen werden
Gegenstand des Verfahrens war der seinerzeit in den Medien ausführlich diskutierte Fall eines Angeklagten aus der Nähe von Potsdam, der am ersten Weihnachtsfeiertag 2015 mit seinem Kraftfahrzeug - nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft absichtlich - mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum gefahren ist, weil er sich selbst und seine im Fahrzeug befindliche Ehefrau zu Tode bringen wollte.
Erweiterter Suizid brachte nur der Ehefrau den Tod
Gelungen ist der erweiterte Suizid nur hinsichtlich der Ehefrau. Der Ehemann überlebte schwer verletzt und wurde von der StA wegen Mordes angeklagt und entsprechend der Anklage vom LG Potsdam am 5. Februar 2018 zu 10 Jahren Haft verurteilt. Das LG ordnete gleichzeitig Fortdauer der bereits bestehenden Untersuchungshaft an.
LG Potsdam erkannte auf Mord
Das LG ging in seinem Urteil davon aus, dass der zum Zeitpunkt der Tat 63 -jährige Ehemann unter schweren Depressionen litt und vor diesem Hintergrund den Entschluss zu einem erweiterten Suizid für sich und seine damals 57 Jahre alte Ehefrau gefasst hatte. Das Gericht hielt den Angeklagten nur für eingeschränkt schuldfähig und sah deshalb von einer lebenslangen Freiheitsstrafe ab.
Zustellung des Verhandlungsprotokolls erst nach einem halben Jahr
Obwohl die Verurteilung bereits am 5. Februar erfolgte, wurde das Verhandlungsprotokoll erst am 27.7.2018 erstellt und gemeinsam mit dem Urteil den Verteidigern am 8.8.2018 zugestellt, also mehr als ein halbes Jahr nach der Urteilsverkündung. Hierdurch verzögerte sich der Fortgang des Revisionsverfahrens erheblich.
BVerfG pocht auf zügige Verfahrensdurchführung
Der Verteidiger des Angeklagten legte gegen den Haftbefehl sowie gegen die Haftfortdauerentscheidung Beschwerde ein. Zur Begründung verwies der Verteidiger auf eine Grundsatzentscheidung des BVerfG. Dieser Entscheidung lag ein Fall schwerer räuberischer Erpressung sowie der Bildung einer kriminellen Vereinigung zu Grunde, in dem der Angeklagte sich nach mehreren, von ihm nicht zu verantwortenden Verfahrensverzögerungen mehr als 18 Monate in Untersuchungshaft befand.
Wann ist U-Haft laut BVerfG nicht mehr länger zumutbar?
In diesem Verfahren hatten die höchsten deutschen Richter entschieden, dass
- einem Beschuldigten eine unangemessen lange Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nicht nur deshalb zugemutet werden dürfe,
- weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zu einer angemessenen verfassungsgemäßen Ausgestaltung der Gerichte zu genügen.
- Dies gelte auch bei schweren Straftaten, bei denen ein Beschuldigter mit einer sehr langen Haftstrafe rechnen müsse.
- Für solche Fälle habe der Staat die Justiz so auszustatten, dass das Strafverfahren in einer für den Angeklagten - für den während der Untersuchungshaft die Unschuldsvermutung gelte - zumutbaren Zeitspanne zu Ende geführt werden könne.
- Die mit über 18 Monaten unangemessen lange Untersuchungshaft verletze den Beschwerdeführer deshalb in seinem verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsrecht,
- die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft sei daher verfassungswidrig (BVerfG, Beschluss v. 11. Juni 2018, 2 BvR 819/18).
Beschleunigungsgebot gilt auch für als Mörder Angeklagte
Vor dem Hintergrund der Entscheidung des BVerfG gab das OLG auch im anhängigen Fall der Beschwerde des Angeklagten gegen die Entscheidung über die Haftfortdauer statt. Nach Auffassung des OLG ist es mit dem verfassungsrechtlich zu beachtenden Beschleunigungsverbot unvereinbar, ein Hauptverhandlungsprotokoll erst mehr als ein halbes Jahr nach der Verkündung des Urteils dem Angeklagten zuzustellen.
- Die späte Zustellung des Protokolls war nach Auffassung des OLG sachlich nicht gerechtfertigt
- und auch vermeidbar,
- zumal das Protokoll auch keinen außergewöhnlichen Umfang habe.
- Die Überlastung des Gerichts sei kein Grund für die Anordnung einer Fortdauer der Haft.
Daran ändere auch eine Anklage wegen Mordes nichts.
Sofortige Freilassung als Folge von Versäumnissen der Justizverwaltung
Aus diesem Grund war der Angeklagte sofort auf freien Fuß zu setzen und die Anordnung der Untersuchungshaft aufzuheben.
Der Senat betonte ausdrücklich, die verspätete Übersendung des Protokolls habe nicht das Gericht bzw. dessen Geschäftsstelle, sondern allein die Justizverwaltung zu vertreten, die in der Justiz in Brandenburg seit Jahren Stellen abgebaut habe.
(OLG Brandenburg, Beschluss v. 6.12.2018, 1 Ws 184/18)
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Hintergrund:
Unschuldsvermutung und Durchbrechungen
Im deutschen Rechtssystem ist die Unschuldsvermutung nicht explizit niedergelegt. Sie ist jedoch nach einhelliger Auffassung eine zwingende Folge des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 GG. In Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist die Unschuldsvermutung ausdrücklich festgeschrieben. Dort heißt es:
Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“
Es ist unumstritten, dass die Unschuldsvermutung unter bestimmten Umständen auch gewissen Grenzen unterliegt. Vor allem kann im Einzelfall gegenüber Personen, die noch nicht rechtskräftig verurteilt worden sind, Untersuchungshaft angeordnet werden (§§ 112 ff. StPO).Da ein Unschuldiger jedoch nicht ohne Weiteres seiner Freiheit beraubt werden darf, sind die entsprechenden Voraussetzungen eng. So müssen zum einen ein dringender Tatverdacht und zum anderen ein Haftgrund vorliegen. Insoweit kommen hauptsächlich Flucht, Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr in Betracht.
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