Nach weit mehr als zwei Jahren Hauptverhandlung war es letzten Mittwoch so weit: Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte im sogenannten NSU-Prozess, hat ihr jahrelanges Schweigen gebrochen. Wenig Gegenliebe ist ihr entgegengeschlagen für diesen Wechsel ihrer Verteidigungsstrategie. Als widersprüchlich und unglaubwürdig, als durchschaubarer Versuch, die eigene Rolle herunterzuspielen, ist ihre Aussage in der Öffentlichkeit aufgenommen worden. Eine Überraschung ist dieses Medienecho nicht.
Letzte Festung verlassen
Die Hauptangeklagte in einem der größten und spektakulärsten Strafverfahren der Nachkriegszeit hat ihre letzte Festung verlassen, die ihr das geltende Prozessrecht gewährt. Sie wollte – offenbar entgegen des Rates ihrer Verteidiger der ersten Stunde – nicht mehr länger die stumme Erduldende sein, über die bloß geredet wird. Sie wollte ihr offenbar übermächtig gewordenes Bedürfnis befriedigen, sich aktiv zu den Vorwürfen zu verhalten, die ihr zur Last gelegt werden. Es ist müßig, darüber zu debattieren, ob dieser Strategiewechsel sich auf das Urteil des Oberlandesgerichts München auswirken wird. Eins ist klar: Wer in einem Strafverfahren seinen Wunsch erfüllt, gehört zu werden, der begibt sich mit Haut und Haar in die Hände seiner Richter.
Schweigerecht und Menschenwürde
Das Schweigerecht des Angeklagten ist ein Grundrecht. Niemand muss sich selber belasten (nemo tenetur se ipsum accusare). Der Zwang zur Selbstbelastung verletzt die Menschenwürde, heißt es in Rechtsprechung und Schrifttum. Deshalb darf sein Schweigen nicht gegen den Angeklagten interpretiert werden. Ob dies in der Praxis tatsächlich unterbleibt, ist allerdings zweifelhaft. Denn wer will schon schweigen, wenn er unschuldig ist, fragt die Laienpsychologie, die gerade im Strafverfahren die Rationalitätsansprüche fundierter Begründungen immer auf subtile Weise in Frage stellt.
Menschenwürde und Kommunikation
Eigentlich möchte der auf Aufklärung bedachte Strafrichter den schweigenden Angeklagten nicht akzeptieren. Er muss es, weil er gelernt hat, dass die Wahrheit nicht um jeden Preis erforscht werden darf. Aber dieser Satz ist oft mehr postuliert als begriffen. Er ist auch nur schwer verständlich. Denn auch wenn das Verbot der Folter – die inquisitorische Konsequenz eines umfassenden Wissensdurstes der Autorität – noch einzuleuchten vermag, so gilt dasselbe für eine belastende Beweiswürdigung wohl kaum.
Denkbar wäre es de lege ferenda in der Tat, den schweigenden Angeklagten als geständigen Angeklagten zu behandeln und ihn so zur Wahrheit oder doch zumindest zu einer phantasierten Möglichkeit der Wahrheit zu zwingen. Doch damit wäre eine der großen Errungenschaften des modernen Rechtsstaats aufgegeben: Der Zwang zur Aussage würde die Menschenwürde des Angeklagten verletzen. Er müsste Einblick in seine Denken und Fühlen gewähren. Er müsste seine Seele gegenüber seinen Verfolgern öffnen. Er wäre zum Mitmachen bei einem Prozess gezwungen, der ihm zutiefst zuwider ist. Im Strafprozess kann man, qua grundgesetzlicher Anordnung, entgegen der Einsichten der Kommunikationsforschung, ausnahmsweise nicht kommunizieren.
Aussagezwang beim Teilschweigen
Wie wenig dieser Grundsatz die meisten Juristen überzeugt, zeigt seine höchst restriktive Anwendung, die sich auch für Beate Zschäpe als verheerend herausstellen könnte. Denn das Verbot, den Angeklagten zum Beweismittel gegen sich selbst und damit zum Objekt des Strafbedürfnisses Dritter zu machen, fällt bereits dann, wenn der Angeklagte sich in irgendeiner Weise zur Sache äußert. Wer nur ein bisschen erzählt und im Übrigen schweigt, den schützt das Verfassungsrecht schon nicht mehr. Gegen den zum Teil schweigenden Angeklagten darf dessen teilweises Schweigen in aller Regel verwandt werden.
Der teilweise schweigende Angeklagte schweigt, so sehen es Strafverfolger und Rechtsprechung, nicht mehr im eigentlichen Sinne, sondern er erzählt eine Geschichte, deren Auslassungen meist als beredter wahrgenommen werden als ihr sonstiger Inhalt. Auf diese Weise verstärkt das Schweigen des Angeklagten die Kraft anderer Beweismittel.
Jede verweigerte Antwort wird nun zum Damoklesschwert
Auf einmal befindet sich der Angeklagte in einer Situation, in der er sich doch umfassend erklären muss. Jede verweigerte Antwort wird nun zum Damoklesschwert. Der Angeklagte hat sich seines Rechts begeben, sein Inneres für sich zu behalten. Will er nicht als quasi-geständig behandelt werden, muss er nun alle Fragen beantworten, ja vorsichtshalber von sich aus umfassend zu allen ihn belastenden Beweismitteln Stellung nehmen.
Er ist in einem Kommunikationsprozess gefangen, von dem er sich nur noch um den Preis einer sicheren Verurteilung zurückziehen kann. Man ahnt, weshalb es für Beate Zschäpe vielleicht besser gewesen wäre, ihrem Mitteilungsbedürfnis nicht nachzugeben.