Selbstmordversuch führt zu Schadensersatz
So sieht es jedenfalls das AG München. Eine 23-jährige Münchnerin beging im Februar 2012 kurz nach 23:00 Uhr einen Suizidversuch, indem sie sich im Bereich des Bahnhofs Karlsfeld vor die S-Bahn warf. Die S-Bahn schleifte sie ein Stück mit. Die Münchnerin wurde schwer verletzt, überlebte aber. Die Triebwagenführerin erlitt einen psychischen Schock und leidet seitdem an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Über einen Zeitraum von mehr als vier Wochen war sie infolge des Vorfalls arbeitsunfähig erkrankt.
Selbstmörderin macht Persönlichkeitsstörung geltend
Die Triebwagenführerin verlangte von der Selbstmörderin die Zahlung eines Schmerzensgeldes. Die Selbstmörderin, die unter Betreuung stand, wandte ein, sie sei zum Zeitpunkt des „Unfalls“ nicht der Lage gewesen, eine freie Willensentscheidung zu treffen. Sie leide unter einer krankhaften Störung ihrer Geistestätigkeit, sie sei emotional instabil und leide unter einer Persönlichkeitsstörung vom Typ Borderline. Sie sei bereits mehrfach stationär behandelt worden, unter anderem wegen selbstverletzender Verhaltensweisen und Tablettenintoxikation.
Selbstmordversuch kann tatbestandlich eine Körperverletzung sein
Die zuständige Richterin beim AG München bewertete den Suizidversuch als tatbestandliche Körperverletzung zum Nachteil der Triebwagenführerin. Der erlittene Schock und die posttraumatische Belastungsstörung seien als schwerwiegende und dauerhafte psychische Beeinträchtigung der Zugführerin und damit als wesentliche Schmälerung ihres körperlichen Wohlbefindens zu werten. Der Selbstmordversuch unter Schädigung einer dritten Person sei daher eine Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB.
Die Selbstmörderin handelte schuldhaft
Das AG sah die Münchnerin für den Gesundheitsschaden der Triebwagenführerin als voll verantwortlich an. Begründung:
- Der Schock sowie die posttraumatische Belastungsstörung sei eine geschehenstypische Reaktion der Triebwagenführerin,
- der Gesundheitsschaden sei damit adäquat kausal auf den Suizidversuch zurückzuführen,
- diese gesundheitlichen Folgen für die Triebwagenführerin waren nach Auffassung des AG für Selbstmörderin auch vorhersehbar.
Mangelnde Steuerungsfähigkeit nicht bewiesen
Die Einwendungen der Selbstmörderin hinsichtlich ihrer fehlenden geistigen Steuerungsfähigkeit ließ das AG nicht gelten. Für diese Tatsachen war die Beklagte nach Auffassung des AG beweispflichtig. Trotz eines entsprechenden Hinweises durch das Gericht habe sie keinen Nachweis dafür erbracht, dass sie zum Zeitpunkt des Geschehens nicht in der Lage gewesen sei, die Folgen ihres Tuns zu beurteilen. Hierfür hätte sie beispielsweise ein psychiatrisch-medizinisches Gutachten beibringen oder die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragen müssen. Da sie dies nicht getan habe, sei sie insoweit beweisfällig geblieben.
Bis zu 1.000 Zugführer pro Jahr betroffen
Nach amtlichen Schätzungen begehen in Deutschland ca. 10.000 Personen pro Jahr Selbstmord. Ca. 700 - 1.000 davon werfen sich vor eine Bahn und machen so den Zugführer zum Werkzeug ihres Handelns. Die psychischen Folgen für die Zugführer, die fast immer den Selbstmörder unmittelbar vor dem Überrollen vor dem Zug auf den Gleisen erkennen, sind erheblich und belasten die Betroffenen in der Regel über Jahre. Die Durchsetzung von Schadensersatz- oder Schmerzensgeldansprüchen ist in der Regel schwierig, da bei Gelingen der Tat Ansprüche gegen die Erben geltend gemacht und diese erst einmal ermittelt werden müssen. Das AG verurteilte die Beklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 1.500 EUR. Die Entscheidung ist rechtskräftig.
(AG München, Urteil v. 27.6.2014, 122 C 4607/14).
Zur Bemessung von Schmerzensgeld: Bei der Höhe des Schmerzensgeldes orientiert sich die Rechtsprechung i. d. R. an Schmerzensgeldtabellen, z.B. an der von Hacks begründeten Schmerzensgeldtabelle.
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