Ist Verurteilung mittels Wahlfeststellung bei zwei möglichen Straftaten verfassungswidrig?
Bestraft werden kann nur derjenige, dem eine Straftat nachgewiesen wird. Diese lernt jeder Jurastudent im ersten Semester. Nach Auffassung des zweiten Strafsenats des BGH verstößt die in der Rechtsprechung anerkannte Verurteilung im Rahmen einer Wahlfeststellung gegen diesen Grundsatz und ist daher verfassungswidrig.
Das Wesen der Wahlfeststellung
Die Wahlfeststellung ist die Antwort der Rechtsprechung auf einen in der Praxis nicht ganz selten vorkommenden Problemfall.
Beispiel:
- Bei einem Beschuldigten wird in großem Umfang Diebesgut sichergestellt.
- Im Rahmen der weiteren Ermittlungen ist nicht aufklärbar, ob der Beschuldigte die gefundenen Gegenstände selbst gestohlen
- oder ob er sie von dem eigentlichen Dieb erworben hat.
- Im ersten Fall wäre der Beschuldigte wegen Diebstahls strafbar, im zweiten Fall wegen Hehlerei.
Steht zur Überzeugung des Strafgerichts fest, dass einer von beiden Vorwürfen in jedem Falle zutrifft und eine dritte Möglichkeit vollständig ausgeschlossen werden kann, so lässt die Rechtsprechung die sogenannte Wahlfeststellung zu, das heißt, das Gericht kann den Angeklagten im Wege einer „Entweder – Oder – Verurteilung“ wegen Hehlerei oder Diebstahls bestrafen.
Als Rechtsinstitut ist die Wahlfeststellung nicht nur bei Hehlerei und Diebstahl (häufigster Fall) anwendbar, sondern grundsätzlich auch bei anderen Delikten. Die Strafe muss in diesem Fall immer aus dem Gesetz entnommen werden, das die mildeste Strafe vorsieht.
Wahlfeststellung ohne direkte Grundlage im Gesetz
Die Wahlfeststellung beruht auf sogenanntem „Richterrecht“, das im Gesetz keine direkte Grundlage hat.
Aus diesem Grund hält der zweite Strafsenat die Anwendung dieses Rechtsinstituts für verfassungswidrig.
- Die Verwirklichung eines Straftatbestandes ist nach dieser Auffassung immer eigenständig zu prüfen.
- Könne ein Diebstahl nicht bewiesen werden, sei die Möglichkeit der Verwirklichung des Hehlereitatbestandes in Erwägung zu ziehen.
- Könne auch die Hehlerei nicht bewiesen werden, so müsse der Angeklagte konsequenterweise freigesprochen werden, da ihm eine konkrete Straftat nicht zur Last gelegt werden könne.
- Dies folgt nach Auffassung des zweiten Strafsenats unmittelbar aus dem in Art. 103 GG postulierten Gesetzlichkeitsprinzip.
Uneinigkeit der verschiedenen Strafsenate des BGH
Mit dieser Auffassung steht der zweite Strafsenat allerdings im Widerspruch zu den anderen Strafsenaten des BGH. Bereits im Jahr 2015 hatte der zweite Strafsenat die Frage dem Großen Senat für Strafsachen vorgelegt, die Vorlage aber wieder zurückgezogen. Grund: Im vorangegangenen Verfahren hatte der Senat nicht geprüft, ob der Tatbestand der Geldwäsche nach § 261 BGB als gesetzlicher Auffangtatbestand einschlägig ist und daher eine Wahlfeststellung ohnehin nicht in Betracht kam.
Wegen Geldwäsche ist gemäß § 261 StGB strafbar, wer sich oder einem Dritten Gegenstände verschafft, die aus einem gewerbsmäßigen Diebstahl oder einer gewerbsmäßigen Hehlerei herrühren. Kurz nach Rücknahme der Vorlage entschied jedoch der fünfte Strafsenat, der Tatbestand der Geldwäsche verdränge die Wahlfeststellung zwischen einzelnen Tatbeständen aus dem gesetzlichen Katalog des Geldwäschetatbestandes - Hehlerei und Diebstahl – nicht (BGH, Beschluss v. 16.8.2016, 5 StR 182/16).
Große Senat hat zwei grundsätzliche Fragen zu beantworten
Damit stellte sich für den zweiten Strafsenat die Frage der Verfassungsmäßigkeit erneut, so dass er die Vorlage an den Großen Senat erneuerte. Der Große Senat hat sich daher nun mit zwei Fragen zu befassen nämlich:
- Widerspricht die wahldeutige Verurteilung eines Angeklagten dem Gesetzlichkeitsprinzip des Artikel 103 GG
und
- ist eine wahldeutige Verurteilung wegen gewerbsmäßigen Diebstahls und gewerbsmäßiger Hehlerei ausgeschlossen, weil beide Alternativen Katalogtaten des § 261 StGB sind und diese Vorschrift als Auffangtatbestand zu werten ist.
Wann der Große Senat sich der Beantwortung dieser Fragen annehmen wird, ist noch nicht abzusehen.
(BGH, Beschluss v. 2.11.2016, 2 StR 495/12).
Hintergrund: In seiner früheren Anfrage führte der Senat aus:
Es handelt sich bei der gesetzesalternativen Wahlfeststellung nicht nur um richterrechtliche Rechtsfortbildung im Bereich des Strafverfahrensrechts, für die Art. 103 Abs. 2 GG nicht gelten würde. Vielmehr wirkt die Rechtsfigur strafbegründend; sie verletzt daher das Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG.
Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.
(BGH, Beschluss vom 28.01.2014, 2 StR 495/12).
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