Gericht muss zu lange Verfahrensdauer auch bei der Strafbildung beachten
Der Angeklagte hatte in den Monaten Februar bis Dezember 2010 keine Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben. Im Februar 2011 fand bei ihm wegen des Tatvorwurfs eine Durchsuchung statt. Das Landgericht Landshut hatte den Angeklagten erst im April 2017 wegen Steuerhinterziehung in elf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und hiervon wegen „überlanger“ Verfahrensdauer vier Monate für vollstreckt erklärt, denn zwischendurch hatten die Strafverfolgungebehörden einmal 2 ½ Jahre gar nichts getan.
Der Angeklagte hatte gegen das Urteil Revision eingelegt. Das Rechtsmittel hatte Erfolg, soweit es die Strafausspruch betraf.
Gericht hat Zusammenspiel von Zeitablauf, Verfahrensdauer und Verfahrensfehler ignoriert
Kommt es bei einem Strafverfahren zu einem großen Abstand zwischen Tat und Urteil, kann dies bei der Bestimmung der Rechtsfolgen laut Bundesgerichtshof unter drei verschiedenen Aspekten von Belang sein:
- Der betreffende Zeitraum muss bereits für sich genommen ins Gewicht fallen.
- Unabhängig hiervon kann einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer eine eigenständige Bedeutung zukommen, bei der insbesondere die mit dem Verfahren selbst verbundenen Belastungen des Angeklagten zu berücksichtigen sind.
- Eine darüber hinausgehende rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung kann sich zu Gunsten des Angeklagten auswirken.
Gericht hatte die Verzögerung zu wenig berücksichtigt
Das Landgericht Landshut hatte zwar
- bei der Bestimmung der Rechtsfolgen
- sowohl bei der Strafrahmenwahl
- als auch bei der konkreten Strafzumessung
berücksichtigt, dass die Taten schon länger zurückliegen.
Vier Monate der Gesamtfreiheitsstrafe für vollstreckt erklärt
Darüber hinaus hat es vier Monate der Gesamtfreiheitsstrafe für vollstreckt erklärt, weil verfahrensfördernde Maßnahmen in einem Zeitraum von etwa zwei Jahren und zwei Monaten nicht stattfanden und der Angeklagte infolge der langen Verfahrensdauer in seiner Lebensführung erheblich eingeschränkt war, zumal er eine Haftstrafe befürchten musste.
Lange Verfahrensdauer als eigenständiger Strafzumessungsgesichtspunkt
Der Bundesgerichtshof kritisierte allerdings, dass das Landgericht im Rahmen der Strafzumessung dem Umstand keine Beachtung geschenkt hatte, dass die Verfahrensdauer für sich genommen bereits überdurchschnittlich lang war.
Ausweislich der Urteilsgründe fanden wegen der verfahrensgegenständlichen Taten schon im Februar 2011 Durchsuchungsmaßnahmen unter anderem beim Angeklagten statt. „Dieser Zeitraum bis zum Urteilserlass hätte vorliegend als eigenständiger und auch bestimmender Strafzumessungsgesichtspunkt bei der Straffindung berücksichtigt werden müssen“, betonte das Gericht.
BGH, Beschluss vom 26.10.2017, 1 StR 359/17.
Hintergrund:
Vor den EU-Gerichten wurde das Tempo deutscher Rechtsprechung mehrfach bemängelt.
- Beschuldigte haben aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention ein Recht auf ein beschleunigtes Verfahren.
- Der EGMR hatte außerdem mehrfach beanstandet, dass Rechtssuchenden in Deutschland kein Rechtsschutz gewährt würde, wenn von ihnen angestrengte Verfahren sich unangemessen lange hinzögen. Diese Rechtsschutzlücke wurde mit Einführung der §§ 198, 199 GVG geschlossen.
-
Italienische Bußgeldwelle trifft deutsche Autofahrer
2.172
-
Wohnrecht auf Lebenszeit trotz Umzugs ins Pflegeheim?
1.7342
-
Gerichtliche Ladungen richtig lesen und verstehen
1.635
-
Klagerücknahme oder Erledigungserklärung?
1.613
-
Überbau und Konsequenzen – wenn die Grenze zum Nachbargrundstück ignoriert wurde
1.471
-
Wie kann die Verjährung verhindert werden?
1.400
-
Brief- und Fernmelde-/ Kommunikationsgeheimnis: Was ist erlaubt, was strafbar?
1.368
-
Wann muss eine öffentliche Ausschreibung erfolgen?
1.305
-
Verdacht der Befangenheit auf Grund des Verhaltens des Richters
1.136
-
Formwirksamkeit von Dokumenten mit eingescannter Unterschrift
1.0461
-
Cyber Resillience Report zeigt Anstieg der Ransomware-Attacken und höhere Zahlungsbereitschaft
14.11.2024
-
Risikoreicher Gehweg: Fußgänger stürzt auf Gehweg über Kante – haftet die Stadt?
18.10.2024
-
Bundeslagebild Cybercrime zeigt deutlichen Anstieg der Cyberkriminalität
30.08.2024
-
Strafanträge sind jetzt digital möglich
16.08.2024
-
Reform: Erstellung öffentlicher Urkunden künftig elektronisch
23.05.2024
-
Neues Selbstbestimmungsgesetz soll kurzfristig in Kraft treten
22.04.2024
-
EM in Deutschland: „Public Viewing“ bis in die Nacht
11.04.2024
-
Brief- und Fernmelde-/ Kommunikationsgeheimnis: Was ist erlaubt, was strafbar?
19.03.2024
-
Wann muss eine öffentliche Ausschreibung erfolgen?
05.03.2024
-
Wichtige Grundsätze des BGH zum Zeugnisverweigerungsrecht
07.02.2024