Gelten Vorfahrtsregeln auch bei misslungenem Einfädeln in stehenden Verkehr?
Ein BMW-Fahrer wollte nach der Pause auf einem Rasthof wieder auf die Autobahn auffahren. Dort herrschte allerdings Stau. Der Wagen vor ihm schaffte es noch, sich in eine Lücke zwischen zwei Lastern zu quetschen. Für den BMW-Fahrer war dagegen nicht mehr genug Platz.
Keine Lücke gefunden: Einfädeln in die Autobahn wegen Stau misslungen
Der Versuch, vom Beschleunigungsstreifen auf die rechte Fahrspur der Autobahn zu wechseln, schlug wegen fehlenden Platzes fehl bzw. weil keiner der im Stau Fahrenden ihm Einfahrt gewährte. Der BMW-Fahrer blieb schräg zwischen dem Beschleunigungsstreifen und der rechten Fahrspur stehen. Als der Verkehr wieder Fahrt aufnahm, übersah ein Lkw-Fahrer den BMW und kollidierte mit ihm.
Geldbuße wegen Nichtbeachtung der Vorfahrt
Das Amtsgericht verurteilte den BMW-Fahrer wegen fahrlässiger Nichtbeachtung der Vorfahrt zu einer Geldbuße von 110 Euro. Das OLG Hamm hat die Entscheidung des Amtsgerichts aufgehoben. Nach Auffassung des Gerichts ergaben die bisherigen Feststellungen keinen Verstoß gegen § 18 Abs. 3 StVO:
- Zwar sei das Amtsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass der auf eine Autobahn Auffahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs zu beachten habe.
- Das gelte auch dann, wenn zähfließender Verkehr und Stau bedingt „Stop-and-go-Verkehr“ herrsche (LG Essen, Beschluss v. 08.04.2013, 1 5 S 48/13).
- Anders sieht es aber aus, wenn gar kein Verkehr herrscht.
Bei absolut stehendem Verkehr liegt kein Verstoß gegen die Vorfahrts-Regelung vor
Wie schon die Formulierung im Gesetz „Vorfahrt“ zeige, muss ein Mindestmaß an Bewegung im Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn der Autobahn herrschen. Ansonsten könne nicht von „Fahrt“ gesprochen werden.
- Steht der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn, so gibt es keine „Vorfahrt“, die Vorrang haben könnte.
- Bei stehendem Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn würde es auch keinen Sinn ergeben,
- den Auffahrenden dazu zwingen zu wollen, eine hinreichend große Lücke zwischen zwei Fahrzeugen nicht zu nutzen.
Das bedeute aber nicht, dass schon bei jeglichem verkehrsbedingten Halt auf der durchgehenden Fahrbahn die Vorfahrtsregelung der § 18 Abs. 3 StVO nicht mehr gelte. Erst wenn der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn in einer Weise zum Stehen gekommen sei, dass mit einer erneuten Fahrbewegung in kürzerer Frist nicht zu rechnen sei, sei das der Fall.
Bei Stop-and-go-Vekehr gilt dagegen die Vorfahrtsregelung
Für Stop-and-go-Verkehr bestätigte der Senat allerdings ausdrücklich die Rechtsprechung, dass § 18 Abs. 3 StVO gelte.
Nach Zeugenaussagen hatte der Verkehr auf der Autobahn etwa drei bis vier Minuten gestanden. In diesem Falle konnte der BMW-Fahrer die Vorfahrtsregelung unter Zugrundelegung der genannten Grundsätze nicht missachten. Der Lkw-Fahrer hätte beim Anfahren den vor ihm liegenden Fahrweg auf etwaige Hindernisse hin kontrollieren müssen.
Kein Haftungsgrund, dass der Fahrer nur teilweise eingefädelt war
Ob der Betroffene bereits ganz oder nur teilweise auf der Fahrbahn eingefädelt war, spiele keine Rolle, so das Gericht. In einer neuen Hauptverhandlung muss geklärt werden:
- Inwieweit sich der LKW in einer Fahrbewegung befand, als der BMW-Fahrer von der Beschleunigungsspur auf die rechte durchgehende Fahrbahn wechselte.
- Ob der BMW-Fahrer gegen § 1 Abs. 2 OWiG dadurch verstoßen habe, dass er so dicht vor dem stehenden LKW auf den rechten Fahrstreifen auffuhr, dass dessen Fahrer ihn wegen des sogenannten „toten Winkels“ nicht ohne Weiteres wahrnehmen konnte.
(OLG Hamm, Beschluss v. 03.05.2018, 4 RBs 117/18)
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Hintergrund:
Auffahrunfall und Anscheinsbeweis
Beim Auffahren auf den vorausfahrenden Wagen spricht der erste Anschein dafür, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er
- entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO),
- unaufmerksam war (§ 1 StVO)
- oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 2 StVO).
Denn der Kraftfahrer ist verpflichtet, seine Fahrweise so einzurichten, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht. Der Anscheinsbeweis kann nur durch feststehende Umstände – die unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen wurden – erschüttert werden (BGH, Urteil v. 13. 12. 2016, VI ZR 32/16).
Der Auffahrunfall reicht als Grundlage eines Anscheinsbeweises aber dann nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen.
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