Haftungsquoten bei Unfall beim Überholen auf dem Autobahn-Ausfädelungsstreifen
Auf einer Autobahn kam es in einem Baustellenabschnitt zu einem Unfall zwischen einem Laster und einem Kleintransporter. Der klagende Lastwagenfahrer war auf der rechten Spur der verengten Fahrbahn unterwegs. Seinen Aussagen zufolge überholte ihn der Kleintransporter auf dem Stand- bzw. Ausfädelungsstreifen (Verzögerungsstreifen). Dabei habe er ihn gestreift.
Lastwagen kollidierten auf der Autobahn in einem Baustellenbereich
Der Fahrer des Kleintransporters hielt dem entgegen, dass er an der Ausfahrt habe abbiegen wollen, und deswegen bereits auf der Ausfädelungsspur war. Der Lastwagen sei auf seine Spur gekommen, deshalb sei es zur Kollision gekommen. Das Amtsgericht hatte bei keiner der beiden Parteien ein unfallursächliches Verschulden gesehen und die Haftungsverteilung mit 50:50 festgelegt.
Das Landgericht Saarbrücken hingegen kam zu einer anderen Einschätzung und hob die Entscheidung auf. Das Amtsgericht habe verkannt, dass der Kleintransporter bei Beginn der Baustelle, an der die Verkehrsführung auf einen Fahrstreifen verengt war, hinter dem Lkw-Fahrer positioniert war und zum Zeitpunkt des Unfalls dann auf gleicher Höhe.
Überholen auf Ausfädelungsstreifen ist ein Verkehrsverstoß
Zudem ergebe sich aus dem Sachverständigengutachten, dass der Transporter zum Kollisionszeitpunkt schneller gefahren sei als der Lkw. Daraus folge, dass der Transporter auf dem Standstreifen bzw. der Ausfädelungsspur an dem Lkw vorbeigefahren sein müsse und damit auf alle Fälle einen Verkehrsverstoß begangen habe:
Entweder war es ein Verstoß gegen das Fahrbahnbenutzungsverbot
Entweder habe der Kleintransporter gegen das Fahrbahnbenutzungsverbot des § 2 Abs. 1 S. 2 StVO verstoßen und sei rechts am klägerischen Lkw vorbeigefahren. Da die Standspur als Seitenstreifen gelte, der nicht Teil der Fahrbahn ist, liegt kein Überholen vor.
§ 2 Straßenbenutzung durch Fahrzeuge
(1) Fahrzeuge müssen die Fahrbahnen benutzen, von zwei Fahrbahnen die rechte. Seitenstreifen sind nicht Bestandteil der Fahrbahn.
Alternativ ist er zu schnell gefahren
Anderenfalls wäre der Kleinlaster ist entgegen § 7a Abs. 3 S. 1 StVO auf dem Ausfädelungsstreifen schneller gefahren als der Laster auf dem durchgehenden Fahrstreifen.
§ 7a Abgehende Fahrstreifen, Einfädelungs- und Ausfädelungsstreifen
...
(3) Auf Ausfädelungsstreifen darf nicht schneller gefahren werden als auf den durchgehenden Fahrstreifen.
Überholen war ursächlich für den Unfall
Dieser Verkehrsverstoß des Kleinlasters sei unfallursächlich, so das Landgericht. Denn ohne eine höhere Geschwindigkeit auf der Standspur oder dem Einfädelungsstreifen wäre der Kleintransporter hinter dem Lkw gefahren. Ein Ausweichen des Lkw nach rechts, sei es innerhalb der eigenen Fahrspur oder durch ein Hinüberfahren auf die danebenliegende Spur, hätte dann zu keiner Kollision führen können.
75 Prozent Haftung für den Überholenden – 25 Prozent Haftung aus Betriebsgefahr
Diese Einschätzung spiegelt sich in der veränderten Haftungsverteilung wider. Dem unfallursächlichen Verkehrsverstoß des Kleinlasters stehe lediglich die Betriebsgefahr des Lkw gegenüber. Diese Betriebsgefahr trete angesichts einiger ungeklärter Umstände zum genauen Unfallgeschehen auch nicht zurück und wurde von dem Gericht mit 25 Prozent bewertet. Entsprechend liegt die Haftung für den Fahrer des Kleintransporters bei 75 Prozent.
(LG Saarbrücken, Urteil v. 22.01.2021, 13 S 110/20).
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Hinweis: Betriebsgefahr tritt gerne zurück
Im Hinblick auf § 17 Abs. 1 StVG kommt es bei Unfällen, an denen Kraftfahrzeuge beteiligt sind, regelmäßig zu einer Haftungsabwägung. Dies gilt namentlich dann, wenn das Verschulden eines der beteiligten Fahrzeuglenker nicht so schwer wiegt, dass die Betriebsgefahr des unfallgegnerischen Fahrzeugs dahinter zurücktritt. Allerdings wird diese Mithaftung aus der Betriebsgefahr eines der am Unfall beteiligten Kraftfahrzeuge gerne "übersehen". Sie erfordert Ausführungen zu der vorzunehmenden Haftungsabwägung. Um diese zu vermeiden, lässt man gerne die Betriebsgefahr zurücktreten.
Der gesetzgeberische Wille ist jedoch, dass die Betriebsgefahr nur ausnahmsweise zurücktritt. Nämlich dann, wenn es sich um ein unabwendbares Ereignis handelt. Ob dies der Fall ist, muss im Einzelfall – ggf. durch Einholung eines Sachverständigengutachtens – geklärt werden. Darüber hinaus wiegt das Verschulden eines Unfallbeteiligten nicht in jedem Fall so schwer, dass die Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs dahinter zurücktritt.
Denn meistens hätte ein "Idealfahrer" den Unfall vermeiden können. Aus der im Gesetz verankerten Betriebsgefahr ergibt sich gerade, dass von allen Verkehrsteilnehmern ein Verhalten verlangt wird, welches Unfälle verhütet. Hat sich ein Verkehrsteilnehmer nicht so verhalten, ergibt sich hieraus eine Mithaftung aus der Betriebsgefahr seines Fahrzeugs.
Praxishinweis: Gerade bei Fällen, in denen eine überwiegende Haftung des Mandanten – z.B. aufgrund eines Vorfahrtsverstoßes oder eines Fehlers beim Rückwärtsfahren – in Betracht kommt, liegt die Inanspruchnahme des eigenen Vollkaskoversicherers nahe. Um dann in den Genuss des Quotenvorrechts des Versicherungsnehmers zu kommen, bedarf es einer Mithaftung des Unfallgegners. Diese wird sich meistens aus der Betriebsgefahr seines Fahrzeuges ergeben. In der Regel reicht eine Mithaftung von 20–25 % aus, um die in der Vollkaskoversicherung vereinbarte Selbstbeteiligung und weitere kongruente Schadenspositionen vollständig ersetzt zu erhalten. Es lohnt sich daher, auf einer Mithaftung aus der Betriebsgefahr des unfallgegnerischen Fahrzeugs zu bestehen und einen entsprechenden Anspruch gerichtlich geltend zu machen.
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