Erbschaftsteuerfestsetzung gegen unbekannte Erben
Hintergrund: Nachlasspflegschaft bei unbekannter Erbfolge
Da die Erbengemeinschaft nach dem Tod des Erblassers (E) zunächst nicht ermittelbar war, wurde vom Nachlassgericht ein Nachlasspfleger (ein Rechtsanwalt) bestellt. Das FA setzte ErbSt gegenüber den "unbekannten Erben" des E fest. Dabei ging es im Wege der Schätzung von 30 Erben der Steuerklasse III mit gleicher Erbquote aus. Der Bescheid war mit einem Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der Anzahl der Erben, der Höhe ihrer Erbteile und Freibeträge sowie der anwendbaren Steuerklasse versehen. Der Bescheid wurde dem Nachlasspfleger bekanntgegeben.
Das FG folgte dem FA und wies die Klage (ca. 3 Jahre und 5 Monate nach dem Tod des Erblassers und der Bestellung des Nachlasspflegers) ab. Die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen durch das FA sei nicht zu beanstanden.
Entscheidung: Zulässige ErbSt-Festsetzung gegen unbekannte Erben
Der angefochtene Bescheid verstößt nicht gegen das Bestimmtheitsgebot (§ 119 Abs. 1 AO). Insbesondere ist in ihm der Inhaltsadressat hinreichend genau bezeichnet. Sind die Erben noch nicht bekannt und besteht eine Nachlasspflegschaft, kann ErbSt gegen die unbekannten Erben festgesetzt werden. Mit der Rechtsfigur der unbekannten Erben (§ 1960 Abs. 1 Satz 2 BGB) besteht zunächst ein abstraktes Subjekt, das sich später als eine Person oder Personenmehrheit erweisen kann. Damit ist ein Steuerschuldner (die unbekannten Erben) vorhanden, der Beteiligter eines Steuerschuldverhältnisses sein kann (BFH v. 21.12.2004, II B 110/04, BFH/NV 2005, 704).
Systematik des ErbStG
Das folgt aus der Gesetzessystematik. Der Nachlasspfleger ist zur Abgabe der ErbSt-Erklärung verpflichtet und ihm ist der ErbSt-Bescheid bekanntzugeben (§ 31 Abs. 6, § 32 Abs. 2 Satz 1 ErbStG). Er hat auch für die Bezahlung der ErbSt zu sorgen (§ 32 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 ErbStG). Diese Bestimmungen erfassen nicht nur Sachverhalte, bei denen die Erben bereits bekannt sind. Der Gesetzgeber wollte vielmehr Regelungen für den gesamten Anwendungsbereich der Nachlasspflegschaft und damit auch für die Fallgruppe der unbekannten Erben treffen. Dementsprechend sollte die ErbSt-Festsetzung während der Nachlasspflegschaft gegenüber unbekannten Erben als Inhaltsadressaten möglich sein (BFH v. 21.12.2004,, II B 110/04, BFH/NV 2005, 704).
Der Erlass nur eines Steuerbescheids ist zulässig
Grundsätzlich schuldet jeder Erwerber lediglich die Steuer für seinen eigenen Erwerb, so dass jedem Erwerber ein gesonderter Steuerbescheid zu erteilen ist (BFH v. 27.3.1968, II 98/62, BStBl II 1968, 376). Bei der Rechtsfigur der unbekannten Erben handelt es sich jedoch nicht um eine Erbengemeinschaft, d.h. eine Mehrheit von Steuerschuldnern, sondern um ein abstraktes Subjekt, dem der Gesetzgeber die Qualität eines Steuerschuldners beigemessen hat (BFH v. 21.12.2004, II B 110/04, BFH/NV 2005, 704). Der Erlass nur eines Bescheids gegen dieses Subjekt ist folgerichtig.
Schätzungsbefugnis des FA
Ist somit ein Steuerschuldner vorhanden (die unbekannten Erben), sind die Erben aber noch nicht ermittelt und benannt, sind die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen. Zu den der Schätzung zugänglichen Besteuerungsgrundlagen gehören die Anzahl der Erben und die jeweilige Erbquote sowie die Voraussetzungen der Steuerklassen und der persönlichen Freibeträge BFH v. 21.12.2004, II B 110/04, BFH/NV 2005, 704).
Angemessener Zeitraum für die Erbenermittlung
Die Befugnis zur Schätzung besteht erst dann, wenn der Nachlasspfleger ausreichend Zeit hatte, seine Pflicht zur Erbenermittlung und seine Mitwirkungspflichten aus § 34 Abs. 1 i.V.m. § 90 AO zu erfüllen (BFH v. 21.12.2004, II B 110/04, BFH/NV 2005, 704). Welcher Zeitraum hierfür angemessen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Verzögerungen bei der Bestellung des Nachlasspflegers sind zu berücksichtigen. In der Regel ist ein Zeitraum von einem Jahr ab dem Erbfall für eine Erbenermittlung, die keine besonderen Schwierigkeiten aufweist, angemessen. Besondere Schwierigkeiten bei der Erbenermittlung (Recherchen im Ausland, fehlende Urkunden bei Auswanderung, Krieg, Flucht oder der Vertreibung) können im Einzelfall den Zeitraum angemessen verlängern.
Die Schätzung war im Streitfall nicht verfrüht
Das FG hat nicht selbst geschätzt, sondern sich die Schätzung des FA (in einem Änderungsbescheid) zu eigen gemacht. Die Schätzungsbefugnis des FA war noch am Tag der mündlichen Verhandlung des FG, an dem die Erben nach wie vor nicht bekannt waren, gegeben. Die mündliche Verhandlung fand ca. 3 Jahre und 5 Monate nach dem Tod des Erblassers statt. Nach Ablauf dieser Zeit ist es auch bei besonders schwierigen Erbenermittlungen angemessen, die ErbSt (ohne Kenntnis der Erben) festzusetzen. Deren Interessen wurden durch den Vorläufigkeitsvermerk gewahrt.
Hinweis: Übernahme der finanzamtlichen Schätzung durch das FG
Das FG hat die eigene Befugnis und Verpflichtung zur Schätzung. Dem kommt das FG bereits nach, wenn es die Schätzung des FA überprüft und als eigene übernimmt. Die Pflicht zur vollumfänglichen Prüfung der vom FA vorgenommenen Schätzung durch das FG führt dazu, dass die Schätzung des FA noch im Zeitpunkt der Entscheidung des FG zutreffend sein muss. Anderenfalls ist sie vom FG zu ändern. Somit muss das FG klären, ob dem Grunde und der Höhe nach weiterhin eine Schätzung geboten ist. Eine Schätzungsbefugnis ist demnach nicht mehr gegeben, wenn – was hier nicht vorliegt - die zunächst unbekannten Erben bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung vor dem FG ermittelt werden.
Bindung des BFH an die Schätzung des FG
Im Übrigen gehört Schätzung des FG zu den tatsächlichen Feststellungen, an die der BFH gebunden ist. Er kann sie nur darauf überprüfen, ob sie zulässig war, ob sie verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen ist und ob das FG anerkannte Schätzungsgrundsätze beachtet hat (BFH v. 9.11.2017, III R 20/16, BStBl II 2018, 278, Rz 19).
BFH Urteil vom 17.06.2020 - II R 40/17 (veröffentlicht am 15.10.2020)
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