Keine coronabedingte Aufhebung von Vollstreckungsmaßnahmen
Hintergrund: Vollstreckung vor Erlass der Billigkeitsregelung
Die A-Gesellschaft betreibt Seeschiffe. Sie hat ihren Geschäftssitz in der EU. Der EU-Mitgliedstaat hat gegen A bereits in 2019 fällige Steuern festgesetzt. Im Januar 2020 richtete er wegen dieser Rückstände (rund 6 Mio. EUR) ein Beitreibungsersuchen nach dem EU-Beitreibungsgesetz (EUBeitrG) an das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt). Das BZSt leitete das Ersuchen über die Hessische Finanzverwaltung an das FA weiter. Das FA erließ sodann im Februar 2020 entsprechende Pfändungs- und Einziehungsverfügungen gegen inländische Banken, bei denen A über Konten verfügte.
A legte gegen die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen Einspruch ein und beantragte die Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung (AdV). Denn wegen der Auswirkungen des Coronavirus solle nach dem BMF-Schreiben v. 19.3.2020 (BStBl I 2020, 262) zur Vermeidung unbilliger Härten von Vollstreckungsmaßnahmen bei rückständigen Steuern abgesehen werden. Sie, die A, habe aufgrund der Epidemie derzeit erhebliche Einnahmeausfälle. Die unterlassene Anwendung des BMF-Schreibens verstoße auch gegen die Kapitalverkehrsfreiheit.
Das FA wies die Einsprüche zurück. Das BMF-Schreiben beziehe sich nur auf bevorstehende Maßnahmen, nicht auf – wie hier – bereits im Februar 2020 durchgeführte Vollstreckungen.
Anders entschied das FG. Es gab dem AdV-Antrag aus formalen Gründen statt. Denn das FA habe in den Pfändungen nicht den EU-Mitgliedstaat sondern fälschlich das Land Hessen als Gläubiger benannt.
Entscheidung: Die Verwaltungsregelung betrifft nur bevorstehende, nicht bereits durchgeführte Vollstreckungsmaßnahmen
Der BFH widerspricht dem FG. Er weist zunächst die formalen Bedenken des FG gegen die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen zurück. Sodann bestätigt er die Auffassung des FA, dass sich die Verschonungsregelung nur auf noch nicht durchgeführte Vollstreckungsmaßnahmen bezieht. Aus der Nichtanwendung des BMF-Schreibens können sich keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verfügungen ergeben.
Keine unklare Angabe des Vollstreckungsgläubigers
Die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen sind nach dem objektiven Empfängerhorizont auszulegen. Adressaten waren mehrere deutsche Großbanken mit eigenen Vollstreckungsabteilungen sowie die A als weltweit tätiges Unternehmen. Geht einem solchen Unternehmen eine Pfändung in einer Größenordnung von rund 6 Mio. EUR zu, ist der objektive Empfängerhorizont eines einschlägig Rechtskundigen maßgeblich. Vor diesem Hintergrund war die Angabe, die A schulde dem Land Hessen rund 6 Mio. EUR i.V.m. der jeweils beigefügten Rückstandaufstellung eindeutig. Denn aus der Rückstandsaufstellung ergab sich, dass es sich um Forderungen des EU-Mitgliedstaats handelte und dass das Land Hessen bzw. das FA aufgrund eines Beitreibungsersuchens dieses Staates tätig wurde. Das ist weder unklar noch in sich widersprüchlich.
Keine Anwendung des BMF-Schreibens in BStBl I 2020, 262
Für die Auslegung einer Verwaltungsvorschrift ist nicht maßgeblich, wie die FG sie verstehen, sondern wie die Verwaltung sie verstanden hat oder verstanden wissen wollte. Die FG dürfen daher Verwaltungsanweisungen nicht nach den allgemeinen Auslegungsmethoden selbst auslegen, sondern nur darauf überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist (BFH v. 26.9.2019, V R 36/17, BFH/NV 2020, 86). Dementsprechend ist davon auszugehen, dass das BMF-Schreiben mit seiner Bekanntgabe (in elektronischer Form) am 19.3.2020 in Kraft getreten ist und Vollstreckungsmaßnahmen, die vor der Veröffentlichung ergriffen worden sind, nicht davon berührt werden und somit nicht aufzuheben oder rückabzuwickeln sind. Der Begriff des "Absehens" i.S. der Nr. 3 Satz 1 des Schreibens deutet darauf hin, dass Maßnahmen gemeint sind, die noch nicht durchgeführt worden sind. Die Kontenpfändungen vom Februar 2020 fallen daher nicht unter die Verschonungsregelung v. 19.3.2020.
Rechtsschutz nach allgemeinen Regeln
Das bedeutet indes nicht, dass Vollstreckungsschuldner in derartigen Fällen rechtsschutzlos gestellt sind. Vielmehr gelten insoweit die allgemeinen Regeln, insbesondere § 258 AO. Der Betroffene ist dann, wenn die Verwaltung die Regelung in Nr. 3 des BMF-Schreibens in BStBl I 2020, 262 nicht zu seinen Gunsten anwendet, lediglich stärker gefordert, darzulegen, weshalb die Aufrechterhaltung der Vollstreckungsmaßnahme wegen der Corona-Pandemie oder aus anderen Gründen unbillig ist bzw. weshalb ihm einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren ist. Diese Verteilung der Darlegungslast ist gerechtfertigt, denn in den Fällen, in denen vor dem 19.3.2020 Vollstreckungsmaßnahmen ergriffen worden sind, kann die Corona-Pandemie und die zu ihrer Eindämmung ergriffenen Maßnahmen für die der Vollstreckung vorangehende Nichtbegleichung von Abgaben- und Steuerschulden (trotz Mahnung) kaum ursächlich sein.
Kein Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit
Diese Überlegungen gelten auch für inländische Sachverhalte. Auch inländische säumige Steuerschuldner können in einer vergleichbaren Situation nicht unter Berufung auf das BMF-Schreiben eine AdV erreichen. In der unterlassenen Anwendung des Schreibens kann daher kein Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit gesehen werden.
Hinweis: Die AdV setzt das Überwiegen der für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe nicht voraus
Der BFH hebt besonders hervor, dass die AdV nicht voraussetzt, dass die für die Rechtswidrigkeit und Unwirksamkeit sprechenden Gründe überwiegen (BFH v. 25.11.2005, V B 75/05, BStBl II 2006, 484). Ernstliche Zweifel bestehen bereits dann, wenn bei Prüfung der Sach- und Rechtslage erkennbar wird, dass aus gewichtigen Gründen Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen besteht und sich bei abschließender Klärung dieser Fragen der Verwaltungsakt als rechtswidrig erweisen könnte (BFH v. 31.1.2002, V B 108/01, BStBl II 2004, 622).
BFH Beschluss vom 30.07.2020 - VII B 73/20 (AdV) (veröffentlicht am 03.09.2020)
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