Keine Erbschaftsteuerpause nach dem 30.6.2016
Hintergrund: Erbfall während der Fortgeltungsanordnung zum ErbStG
Zu entscheiden war, ob infolge des BVerfG-Urteils v. 17.12.2014, 1 BvL 21/12 (BStBl II 2015, 50), mit dem § 13a, § 13b, § 19 Abs. 1 ErbStG 2009 für verfassungswidrig erklärt wurden, in der Zeit vom 1.7.2016 bis 9.11.2016 eine Besteuerungslücke (ErbSt-Pause) bestand.
X ist Alleinerbin nach ihrer im August 2016 verstorbenen Tante. Der Erwerb bestand aus Privatvermögen (Bankguthaben, ausgezahlte Lebensversicherung). Im Juni 2017 setzte das FA für den Erwerb ErbSt fest.
X wandte ein, am Stichtag (28.8.2016, Todestag) habe kein mit Art. 3 Abs. 1 GG in Einklang stehendes ErbStG mehr existiert, sodass der Erwerb nicht der ErbSt unterliege. Denn das BVerfG habe dem Gesetzgeber eine Frist zur Neuregelung bis zum 30.6.2016 eingeräumt, die nicht verlängert worden sei. Die Rückwirkung der Neuregelung sei unzulässig.
Das FG wies die Klage ab. Mit dem rückwirkend zum 1.7.2016 in Kraft getretenen ErbStG (ErbStAnpG 2016 v. 4.11.2016, BGBl I 2016, 2464, v. 9.11.2016) sei eine umfassende Rechtsgrundlage geschaffen worden.
Entscheidung: Anwendung des bisherigen Rechts aufgrund der Fortgeltungsanordnung des BVerfG
Der BFH verneint eine Besteuerungslücke. Der Gesetzgeber konnte die erbschaftsteuerrechtlichen Regelungen im November 2016 rückwirkend zum 1.7.2016 in Kraft setzen.
Unbefristete Fortgeltungsanordnung
Im Interesse einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs kann das BVerfG die weitere Anwendbarkeit verfassungswidriger Normen für gerechtfertigt erklären und dem Gesetzgeber eine Frist einräumen, um eine verfassungsgemäße Regelung zu erlassen (Fortgeltungsanordnung, BVerfG v. 10.4.2018, 1 BvL 11/14, BVerfGE 148, 147, Rz 170). Die weitere Anwendung der als verfassungswidrig erkannten Norm ist dann in dem von BVerfG angeordneten Rahmen zulässig. Das bedeutet: Entscheidet das BVerfG, dass das bisherige Recht bis zu einer Neuregelung weiter anwendbar und der Gesetzgeber bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einer Neuregelung verpflichtet ist (BVerfG v. 7.11.2006, 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1, BStBl II 2007, 192), sind die verfassungswidrigen Regelungen entsprechend der Tenorierung - unabhängig vom Fristlauf für den Gesetzgeber - bis zu der tatsächlichen Neuregelung anwendbar.
Weitere Anwendung des ErbStG a.F. auf den Erwerb von Privatvermögen
Die Regelungen des ErbStG waren für den Erwerb von Privatvermögen über den 30.6.2016 hinaus anwendbar. Sie wurden nicht durch eine spätere rückwirkende Regelung ersetzt. Denn der Gesetzgeber hat mit dem ErbStAnpG 2016 lediglich den Übergang von Betriebsvermögen neu geregelt (§§ 10, 13a bis 13d, 19a, 28 und 28a ErbStG 2016) und insoweit in § 37 Abs. 12 Satz 1 ErbStG 2016 die Rückwirkung angeordnet. Die im Streitfall für den Übergang von Privatvermögen maßgebenden Vorschriften (§§ 1, 2, 3, 9 ff., 13, 16, 19 ErbStG) wurden durch das ErbStAnpG 2016 inhaltlich nicht geändert. Sie enthalten daher keine rückwirkende Neuregelung, sondern blieben unverändert erhalten.
Keine Vorlage an das BVerfG
Eine Vorlage an das BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG kommt nicht in Betracht. Die Erbschaftsbesteuerung des Privatvermögens ist nicht deshalb verfassungswidrig, weil eine Überbegünstigung des Betriebsvermögens vorliegen würde. Trotz der nach dem ErbStAnpG 2016 weiterhin bestehenden sehr großzügigen Begünstigung des Betriebsvermögens ist der BFH nicht davon überzeugt, dass die Regelungen gegen Art. 3 GG verstoßen. Das gilt auch deshalb, weil das BVerfG die Begünstigung des Betriebsvermögens für kleinere und mittlere Unternehmen bis hin zur Vollverschonung für zulässig erachtet hat.
Hinweis: Auslegung der Fortgeltungsanordnung des BVerfG
Gewichtige Stimmen im Schrifttum gehen davon aus, aufgrund der Fristsetzung in der Fortgeltungsanordnung des BVerfG (BVerfG v. 17.12.2014, 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, BStBl II 2015, 50) sei ab dem 1.7.2016 (zunächst) eine ErbSt-Pause eingetreten. Die Erhebung der ErbSt sei auch für den Übergang von Privatvermögen blockiert. Dem widerspricht der BFH im Hinblick auf den Tenor des BVerfG-Urteils v. 17.12.2014, 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, BStBl II 2015, 50). Dieser lautet in Ziffer 2: "Das bisherige Recht ist bis zu einer Neuregelung weiter anwendbar. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine Neuregelung spätestens bis zum 30.06.2016 zu treffen." Diese Regelung stellt eindeutig eine unbefristete Fortgeltungsanordnung dar. Die Frist in Satz 2 bezieht sich lediglich auf die Verpflichtung des Gesetzgebers, eine Neuregelung zu schaffen. Sie ändert an der Wirksamkeit der Fortgeltungsanordnung auch dann nichts, wenn die Neuregelung pflichtwidrig nicht oder verspätet geschaffen wird. Für diese Auslegung des Tenors spricht die differenzierte Tenorierungspraxis des BVerfG, nach der das BVerfG in den Fällen, in denen eine Anwendungssperre bei Untätigkeit des Gesetzgebers in der gesetzten Frist eintreten soll, unmissverständlich eine Fortgeltung nur befristet anordnet (z.B. BVerfG v. 23.6.2015, 1 BvL 13/11, 1 BvL 14/11, BVerfGE 139, 285, BStBl II 2015, 871) und dies teilweise auch ausdrücklich rechtfertigt (BVerfG v. 10.4.2018, 1 BvL 11/14, BVerfGE 148, 147, Rz 176). Das BVerfG-Urteil v. 17.12.2014, 1 BvL 21/12 (BVerfGE 138, 136, BStBl II 2015, 50) enthält demgegenüber keine entsprechende Befristung.
Ausklammerung der Rückwirkungsproblematik
Der BFH hat die Frage der Rückwirkung des ErbStAnpG 2016 nicht problematisiert. Im Streitfall ging es ausschließlich um die Vererbung von Privatvermögen. Die dafür anzuwendenden Vorschriften des ErbStG wurden durch die Neuregelungen inhaltlich nicht geändert.
BFH Urteil vom 06.05.2021 - II R 1/19 (veröffentlicht am 11.11.2021)
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