Prozesskosten im Zusammenhang mit einem Umgangsrechtsstreit
Hintergrund: Entführung des Kindes nach Südamerika
Die Eltern trennten sich wenige Monate nach der Geburt ihrer Tochter (T). Die Mutter (M) – frühere Ehefrau des Vaters (V) – brachte sodann T nach einer Reise in ihr Heimatland Peru nicht mehr nach Deutschland zurück, sondern behielt sie in Peru. V versuchte (vergeblich), T durch ein Verfahren zum Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) nach Deutschland zurückzuholen. Die ihm in diesem Zusammenhang entstandenen Gerichts- und Anwaltskosten von über 20.000 EUR machte er (für 2012) als außergewöhnliche Belastung geltend.
Das FA lehnte die Berücksichtigung ab. V habe nicht nachgewiesen, inwieweit seine Existenzgrundlage durch die Aufwendungen gefährdet gewesen sei. Das FG war anderer Auffassung und gab der Klage statt. Unter dem Begriff der "Existenzgrundlage" i.S.v. § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG sei nicht nur die materielle Lebensgrundlage, sondern auch die immaterielle, den Kernbereich menschlichen Lebens berührende Lebensgrundlage zu verstehen.
Entscheidung: Zivilprozesskosten sind nur bei Gefährdung der materiellen Existenzgrundlage abziehbar
Der BFH widerspricht dem FG. Er hob das FG-Urteil auf und wies die Klage ab. Der Begriff der Existenzgrundlage ist nur im Sinne der materiellen Lebensgrundlage zu verstehen.
Anschluss an die Rechtsprechung zu Scheidungskosten
Nach § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG greift das grundsätzliche Abzugsverbot für Prozesskosten nur dann nicht ein, wenn der Steuerpflichtige ohne die Aufwendungen Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine notwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können. Der BFH verweist auf das zur Nichtabziehbarkeit der Scheidungskosten ergangene Urteil v. 18.5.2017, VI R 9/16 (BStBl II 2017, 988). Danach ist als Existenzgrundlage nur die materielle Lebensgrundlage zu verstehen. Für diese Auslegung spricht der Gesetzeswortlaut und das bisherige Verständnis des Begriffs der Existenzgrundlage in der Rechtsprechung sowie auch die Entstehungsgeschichte der Norm (ausführlich BFH v. 18.5.2017, VI R 9/16, BStBl II 2017, 988, Rz 16 ff.).
Fortführung dieser Rechtsprechung
An diesem Verständnis des Begriffs der Existenzgrundlage i.S. der materiellen Lebensgrundlage hält der BFH fest. Diese Auslegung gilt allgemein und nicht nur für den Fall von Scheidungskosten. Für diese enge Auslegung spricht die Rechtsprechungsentwicklung. Der BFH hatte für die Abziehbarkeit von Zivilprozesskosten 3 Fallgruppen gebildet:
- Scheidungskosten,
- ein existenziell wichtiger Bereich oder
- der Kernbereich menschlichen Lebens ist berührt.
Aus der Gesetzesentwicklung ergibt sich, dass der Gesetzgeber mit § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG lediglich die von der Rechtsprechung geprägte Fallgruppe 2 als Ausnahme vom generellen Abzugsverbot für Prozesskosten anerkennen wollte. Außerdem sollte die Abziehbarkeit von Prozesskosten auf einen "engen Rahmen" beschränkt werden (BT-Drs. 17/1064, 45, 46). Eine Auslegung, dass gleichwohl Aufwendungen, die den Kernbereich des menschlichen Lebens und damit die "immaterielle Existenzgrundlage" betreffen (Fallgruppe 3), abziehbar sind, ist daher nicht möglich.
Kein verfassungsrechtliches Gebot der Sicherung auch der immateriellen Existenzgrundlage
Nach dem Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums ist das Einkommen insoweit steuerfrei zu stellen, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins des Einzelnen und seiner Familie benötigt wird. Die Bemessung des maßgeblichen Existenzminimums richtet sich nach dem Leistungsniveau des Sozialhilferechts (BFH v. 2.9.2015, VI R 32/13, BStBl II 2016, 151). Zu diesem steuerlich zu verschonenden Existenzminimum gehören Prozesskosten grundsätzlich nicht (BFH v. 18.5.2017, VI R 9/16, BStBl II 2017, 988, Rz 37). Sie werden nur ausnahmsweise berücksichtigt, wenn die (materielle) Existenz des Steuerpflichtigen gefährdet wäre, falls er sich nicht auf einen Prozess einlassen würde. Auch aus Art. 6 GG folgt nichts anderes. Die Pflicht des Staates zur Förderung der Familie geht nicht so weit, dass dieser gehalten wäre, jegliche die Familie treffende finanzielle Belastung auszugleichen (BVerfG v. 7.5.1968, 1 BvR 133/67, BVerfGE 23, 258, unter B.III.).
Hinweis: Die BFH-Auffassung erscheint zu streng
Die Entscheidung ist durch das Urteil zur Nichtabziehbarkeit der Ehescheidungskosten vorgezeichnet (BFH v. 18.5.2017, VI R 9/16, BStBl II 2017, 988). Das FG ist der strengen Auffassung des BFH mit einem "Rüttelurteil" entgegen getreten. Gegen die nunmehr vom BFH dagegen gesetzte enge Auslegung bestehen Bedenken. Denn in anderen Fällen, z.B. bei Krankheitskosten, wird auf die materielle Existenzgrundlage nicht abgestellt. Die psychisch/seelische oder ideelle Existenzgrundlage, die die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) umfasst, sollte ebenfalls angemessen berücksichtigt werden können. In dem Parallelurteil v. 13.8.2020, VI R 27/18, hat der BFH entsprechend (teilweise inhaltsgleich) entschieden. Möglicherweise kann langfristig mit einer gewissen Lockerung der – als zu streng empfundenen – Rechtsprechung des BFH in die Richtung des FG-Urteils gerechnet werden.
BFH Urteil vom 13.08.2020 - VI R 15/18 (veröffentlicht am 05.11.2020)
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