6-monatige Auszahlungsbeschränkung beim Kindergeld
Beispiel: A beantragt im Juli 2019 rückwirkend ab September 2018 Kindergeld für ein Kind. Die Familienkasse setzt Kindergeld ab September 2018 fest, zahlt aber nur die Monate ab Januar 2019 aus.
6 Monate Beschränkung: Alt- und Neuregelung im Vergleich
Nach bis zum 31.12.2017 geltenden Recht konnte Kindergeld rückwirkend für den Zeitraum der Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO von 4 Jahren ausgezahlt werden. Da nach Auffassung der Finanzverwaltung mit der 4-jährigen Rückwirkung auch eine Missbrauchsgefahr verbunden war, wurde mit Wirkung ab 1.1.2018 geregelt, dass Kindergeld rückwirkend nur für die letzten 6 Monate vor Beginn des Monats gezahlt wird, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist.
6 Monate-Neuregelung nur im Erhebungsverfahren?
§ 66 Abs. 3 EStG soll nach Auffassung der Finanzverwaltung aber nicht im Festsetzungsverfahren, sondern nur im Erhebungsverfahren anzuwenden sein. Die Festsetzung von Kindergeld für Zeiträume, die über den 6-Monats-Zeitraum zurückreichen, soll erfolgen, wenn die Familienkasse das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für den Anspruch auf Kindergeld ohne weitere Sachverhaltsaufklärung feststellen kann bzw. bei erkennbarem Interesse des Berechtigten. Ein erkennbares Interesse kann für einen Kindergeldberechtigten beispielsweise dann bestehen, wenn der Familienkasse bekannt ist, dass der vorrangig Berechtigte oder der nachrangig Berechtige dem öffentlichen Dienst angehört oder auch wenn der der Berechtigte Anspruch auf Kindergeld für ein jüngeres Kind hat. Wird für einen vergangenen Zeitraum – wie hier - Kindergeld festgesetzt und reicht dieser Zeitraum über den 6-Monats-Zeitraum zurück, wird in der Praxis dem Festsetzungsbescheid wegen der Auszahlungsbeschränkung ein Hinweis beigefügt.
FG: Festsetzungsbescheid für die Auszahlung bindend
Grundsätzlich ist Grundlage der Erhebung von Steueransprüchen – und damit auch der Auszahlung von Kindergeld – nicht der nach den Steuergesetzen entstandene materielle Steueranspruch, sondern der im Festsetzungsverfahren durch Verwaltungsakt konkretisierte Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis. Wurde ein Kindergeldanspruch wirksam und bestandskräftig festsetzt, hat der Berechtigte grundsätzlich einen Anspruch auf Auszahlung.
Daher kommen die Finanzgerichte Niedersachsen (Urteile v. 25.9.2018, 8 K 95/18, Haufe Index 2466876 und v. 25.10.2018, 10 K 141/18, Haufe Index 12466850) und Düsseldorf (Gerichtsbescheid v. 10.4.2019, 10 K 3589/18 Kg) zu dem Ergebnis, dass entsprechend der Festsetzung ein Anspruch auf Auszahlung (hier bei A ab September 2018) besteht. Dagegen soll auch nicht § 66 Abs. 3 EStG sprechen, weil die Vorschrift nicht dem Erhebungs- sondern dem Festsetzungsverfahren zuzuordnen sei. Die Finangerichte gehen davon aus, dass § 66 Abs. 3 EStG zwar grundsätzlich greift; die Regelung aber bereits im Festsetzungsverfahren zu berücksichtigen ist. Bereits der Wortlaut der Vorschrift ordne die Regelung des Festsetzungsverfahren zu, weil "gezahlt" im Kindergeldrecht bislang unstrittig und einheitlich als "festgesetzt und gezahlt" ausgelegt wird (z.B. § 64 Abs. 1 oder § 66 Abs. 2 EStG).
Soll hingegen zum Ausdruck gebracht werden, dass eine Regelung einen festgesetzten Kindergeldanspruch voraussetzt und damit die Erhebungs- bzw. Auszahlungsebene betrifft, wird bislang einheitlich der Begriff "ausgezahlt" verwendet (z.B. § 70 Abs. 1 EStG). Auch der Gesetzeszweck spreche nicht für eine Zuordnung der Regelung zum Erhebungs- bzw. Auszahlungsverfahren. Die Regelung soll verhindern, dass für einen mehrjährigen Zeitraum in der Vergangenheit rückwirkend Kindergeld ausgezahlt werden kann. Diesem Zweck genüge die Regelung unabhängig davon, ob sie im Festsetzungsverfahren oder im Erhebungsverfahren berücksichtigt wird.
Gegen die Entscheidungen der Finanzgerichte Niedersachsen und Düsseldorf laufen Revisionsverfahren vor dem BFH (Az. III R 66/18, III R 70/18 und III R 33/19).
Aktualisierung: BFH ordnet Neuregelung dem Festsetzungsverfahren zu
Der BFH hat sich zwischenzeitlich der Auffassung der Finanzgerichte angeschlossen, demnach ist die Auszahlungsbeschränkung dem Festsetzungsverfahren zuzuordnen (siehe hierzu die Kommentierung zu BFH, Urteil v. 19.2.2020, III R 66/18).
Hinweis: Auffassung der Finanzgerichte kann auch Nachteile mit sich bringen
Auf den ersten Blick scheint die (inzwischen vom BFH bestätigte) Auffassung der Finanzgerichte vorteilhaft. Wendet man aber § 66 Abs. 3 EStG bereits im Festsetzungsverfahren an, hätte dies auch negative Auswirkung auf die Fälle mit berechtigtem Interesse. Erhält etwa ein Beamter als Teil seiner Beamtenbesoldung einen Familienzuschlag, ist dessen Höhe von der Anzahl der Kinder abhängig, für die er Anspruch auf Kindergeld hat.
Auswirkungen auf die steuerliche Entlastung über Kinderfreibetrag
Im Rahmen der Einkommensteuererklärung wurde beim Abzug der Kinderfreibeträge das Kindergeld auch bei fehlender Auszahlung angerechnet. In Folge dessen erhielten halten betroffene Eltern meist gar keine steuerliche Entlastung für ihre Kinder. Im Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch, dem der Bundesrat am 28.6.2019 zugestimmt hat, ist diese Regelung beseitigt worden. Das Kindergeld, das wegen verspätetem Antrag bei der Familienkasse nicht ausgezahlt wird, wird auch nicht mehr auf die Steuerentlastung durch den Kinderfreibetrag angerechnet. Der Bundesverband Lohnsteuerhilfevereine hat mit Pressemitteilung vom 27.6.2019 darauf hingewiesen, dass die Regelungen für noch alle nicht bestandskräftigen Veranlagungen gilt. M. E. stellt sich die Rechtslage aber wie folgt dar:
Im Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch wurde mit Wirkung vom 18.7.2019 § 66 Abs. 3 EStG gestrichen und dafür in § 70 EStG folgende Sätze 2 und 3 angefügt: "Die Auszahlung von festgesetztem Kindergeld erfolgt rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Der Anspruch auf Kindergeld nach § 62 EStG bleibt von dieser Auszahlungsbeschränkung unberührt."
§ 52 Abs. 50 EStG bestimmt, dass § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG auf Anträge anzuwenden ist, die nach dem 18.7.2019 eingehen. Die Neuregelung in § 31 Satz 5 EStG, wonach bei der Günstigerprüfung der Anspruch auf Kindergeld für Kalendermonate unberücksichtigt bleibt, für die durch Bescheid der Familienkasse ein Anspruch auf Kindergeld festgesetzt wurde, aber wegen der Auszahlungsbeschränkung (bzw. im Gesetzestext § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG) nicht ausgezahlt worden ist, verweist wiederum auf § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG. Demnach können m. E. noch nicht bestandskräftige Veranlagungen für Altjahre nur dann von der Neuregelung profitieren, wenn der Antrag auf (rückwirkende Festsetzung von) Kindergeld nach dem 18.7.2019 eingegangen ist.
Aktualisierung: Anhängiges BFH-Verfahren
Für die Zeiträume davor sollte aber trotzdem Einspruch eingelegt und das Ruhen des Verfahrens beantragt werden, weil hierzu ein Verfahren vor dem BFH offen ist. Das FG Hessen hat nämlich entschieden (Urteil v. 17.9.2019, 6 K 174/19), dass die materiell-rechtlich wirkende Einschränkung des Kindergeldanspruchs nach § 66 Abs. 3 EStG zwar nicht dazu führt, dass auch § 31 Satz 4 EStG dahingehend verstanden werden könnte, dass nur das tatsächlich an den Berechtigten und Einkommensteuerpflichtigen "gezahlte" Kindergeld den Umfang des der tariflichen Einkommensteuer hinzuzurechnenden "Anspruchs" entspricht.
Es sei jedoch anzuerkennen, dass die Hinzurechnung vor dem Hintergrund der Zielsetzung des Familienleistungsausgleichs bei der Sicherung und Verschonung des nach Art 6 Abs. 1 GG besonders zu schützenden kinderbezogenen Existenzminimums nur dann den Gewährleistungen des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes entsprechen kann, wenn der Kindergeldanspruch gegenüber der Familienkasse ohne Einschränkungen durch eine Ausschlussfrist entsprechend § 66 Abs. 3 EStG bis zur Grenze der 4-jährigen Festsetzungsfrist geltend gemacht werden kann. Der Begriff des "Anspruchs" i. S. d. § 31 Satz 4 EStG erfordere daher im Lichte des § 66 Abs. 3 EStG eine verfassungskonforme Auslegung.
Diese sei im Interesse eines gebotenen verbindlichen Ergebnisses bereits im Steuerfestsetzungsverfahren dahingehend vorzunehmen, dass ein bestehender Kindergeldanspruch, der vom Berechtigten und Steuerpflichtigen gegenüber der Familienkasse innerhalb der Festsetzungsfrist geltend gemacht wurde, aber gleichwohl ganz oder teilweise von der 6-monatigen Frist erfasst wird, nur in Höhe der tatsächlichen Auszahlung in die Vergleichsrechnung und Hinzurechnung einbezogen wird. Das Aktenzeichen des BFH lautet III R 50/19.
Aktualisierung (19.8.2020): Keine weitergehende Rückwirkung
Die oben dargestellte Auffassung bezüglich der Neuregelung und der Voraussetzung "Antrag nach dem 18.7.2019" wird aktuell auch vom FG Köln (Urteil v. 5.02.2020, 14 K 1612/19) so gesehen. Auf die Neuregelung in § 31 Satz 5 EStG kann man sich nicht in allen offenen Fällen stützen. Es wurde ein Inkrafttreten der Neuregelung zum 18.7.2019 angeordnet, was nach der allgemeinen Regelung in § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG in der für das Jahr 2019 geltenden Fassung zu einer erstmaligen Anwendung im Veranlagungszeitraum 2019 führt. Angesichts dessen könne § 31 Satz 5 EStG keine weitergehende Rückwirkung beigemessen werden. Entgegen der hier dargestellten Auffassung des Hessischen FG ist auch eine verfassungskonforme Auslegung des § 31 Satz 5 EStG dergestalt, dass die Regelung stets dann zur Anwendung kommt, wenn der Kindergeldantrag nicht rechtzeitig gestellt wird und die Auszahlung des Kindergelds zeitlich begrenzt wird, was eine Rückwirkung bis zur erstmaligen Anwendung des § 66 Abs. 3 EStG bedeuten würde, nicht geboten, so das FG. Es fehle schon an einer dafür erforderlichen planwidrigen Regelungslücke. Die Neuregelung gehe auf eine Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zurück und solle nach der Gesetzesbegründung Folgeänderung zu der neuen Regelung in § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG sein. Der Gesetzgeber wollte damit keine gänzlich andere - weitergehend rückwirkende - Änderung anordnen.
Auch hier läuft unter dem Aktenzeichen III R 18/20 ein Revisionsverfahren vor dem BFH.
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