Ausschlussfrist für die rückwirkende Gewährung von Kindergeld

Die für Kindergeldanträge nach § 66 Abs. 3 EStG a.F. geltende Ausschlussfrist ist dem Festsetzungsverfahren und nicht dem Erhebungsverfahren zuzuordnen. Die Familienkasse darf im Erhebungsverfahren die Auszahlung vorbehaltslos festgesetzten Kindergeldes nicht unter Berufung auf die Ausschlussfrist beschränken.

Hintergrund: Antrag auf rückwirkende Festsetzung des Kindergelds

Streitig ist die Auszahlung von Kindergeld für den Zeitraum August 2015 bis September 2017. Der Fall betrifft § 66 Abs. 3 EStG a.F. Danach wird das Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist.

Der Vater (V) beantragte im April 2015 Kindergeld für seine Tochter. Er gab an, diese werde im Juli 2015 eine Ausbildung abschließen und ab September 2015 eine dreijährige Ausbildung zur Erzieherin beginnen.

Die Familienkasse setzte ab März 2015 Kindergeld fest, hob diese Festsetzung später ab August 2015 wieder auf, da trotz Aufforderung die Ausbildung der Tochter nicht nachgewiesen worden sei.

Mit Antrag vom 7.10.2017, der erst am 3.4.2018 bei der Familienkasse eingegangen war, beantragte V die Festsetzung von Kindergeld für August 2015 bis August 2019. Die Familienkasse setzte Kindergeld ab August 2015 mit dem Zusatz "laufend" fest, beschränkte jedoch die Nachzahlung auf den Zeitraum Oktober 2017 bis April 2018 unter Hinweis auf § 66 Abs. 3 EStG. Anträge, die nach dem 31.12.2017 eingehen, könnten rückwirkend nur noch zu einer Nachzahlung für die letzten sechs Kalendermonate vor dem Eingang des Antrags führen. Da der Antrag erst am 3.4.2018 bei der Familienkasse eingegangen sei, bestehe ein Zahlungsanspruch erst ab Oktober 2017.

Das FG gab der dagegen gerichteten Klage statt und entschied, das für August 2015 bis September 2017 festgesetzte Kindergeld sei an V zu zahlen. § 66 Abs. 3 EStG betreffe zwar das Festsetzungsverfahren (nicht das Erhebungsverfahren). Da die erfolgte Festsetzung indes keine Beschränkung auf 6 Monate seit Antragstellung enthalte, sei die Begünstigung zwar nicht gesetzeskonform, aber aufgrund der Bestandskraft des Bescheids bindend. 

Entscheidung: Die Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG betrifft das Festsetzungsverfahren

Die Vorschrift ist am 1.1.2018 in Kraft getreten und ist nur auf Anträge anzuwenden, die nach dem 31.12.2017 eingehen. Die 6-monatige Ausschlussfrist ist damit im Streitfall anzuwenden, da der Antrag des V erst am 3.4.2018 bei der Familienkasse eingegangen ist.

§ 66 Abs. 3 EStG regelt das Festsetzungsverfahren, nicht das Erhebungsverfahren

Die Vorschrift betrifft das Festsetzungsverfahren, nicht das Erhebungsverfahren. Das Kindergeld kann danach nur für die letzten 6 Monate festgesetzt werden. Der Wortlaut "gezahlt" könnte zwar darauf hindeuten, dass nur die Auszahlung des Kindergeldes geregelt wird und damit das Erhebungsverfahren betroffen ist. Für eine Zuordnung bereits zum Festsetzungsverfahren spricht jedoch die systematische Stellung in § 66 EStG. Die §§ 62 bis 69 EStG befassen sich mit den materiellen Voraussetzungen des Kindergeldanspruchs und Fragen der Festsetzung. In den §§ 70 und 72 EStG erfolgt der Übergang vom Festsetzungs- in das Erhebungsverfahren, während die §§ 74 bis 76 EStG ausschließlich Fragen der Erhebung betreffen.

Diese Sichtweise wird auch dadurch bestätigt, dass im Rahmen des Sozialleistungsmissbrauchsgesetzes (SozialMissbrG v. 11.07.2019) die Auszahlungsbeschränkung von § 66 Abs. 3 EStG nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG in das Erhebungsverfahren verschoben wurde. Einer späteren Gesetzesänderung kann zwar eine gewisse Indizwirkung für die frühere Rechtslage beigemessen werden. Das gilt aber dann nicht, wenn der Gesetzgeber – wie hier - selbst bestätigt, dass ein entsprechender gesetzgeberischer Wille in der bisherigen Vorschrift keinen Niederschlag gefunden hat.

Konstitutive Wirkung der über 6 Monate zurückwirkenden Festsetzung

Die Familienkasse hat somit entgegen § 66 Abs. 3 EStG (und damit rechtswidrig) das Kindergeld rückwirkend für August 2015 bis September 2017 (d.h. über den 6-Monats-Zeitraum hinaus) festgesetzt. Diese Festsetzung wirkt allerdings konstitutiv und ist infolge der eingetretenen Bestandskraft für die Familienkasse bindend. Denn im Abrechnungsverfahren kommt es allein auf die formelle Bescheidlage an (BFH v. 15.7.2010, III R 32/08, BFH/NV 2010, 2237). Da die Familienkasse das Kindergeld über den Sechsmonatszeitraum hinaus rückwirkend bestandskräftig festgesetzt hatte, war sie auch verpflichtet, das Kindergeld in diesem Umfang auszuzahlen. Die Revision der Familienkasse, der das BMF beigetreten war, wurde daher zurückgewiesen.  

Hinweis: Neuregelung ab 18.7.2019

Durch das SozialMissbrG wurde § 66 Abs. 3 EStG aufgehoben und als Auszahlungsbeschränkung nach § 70 Abs. 1 Satz 2 in das Erhebungsverfahren verlagert. Die Neuregelung gilt für Anträge, die nach dem 18.7.2019 eingehen. Der materiell-rechtliche Kindergeldanspruch wird nicht berührt (§ 70 Abs. 1 Satz 3 EStG). Die bisherigen Verwaltungsanweisungen, die auf der (vom BFH abgelehnten) BMF-Auffassung beruhen, dass § 66 Abs. 3 EStG im Erhebungsverfahren zu verorten ist (Abschn. V 23.2 DA-KG 2019), können grundsätzlich bestehen bleiben.

Das bedeutet: Bei einer über den 6-Monats-Zeitraum hinausreichenden Kindergeldberechtigung

  • wird das Kindergeld rückwirkend (bis zur Verjährung) für den gesamten Berechtigungszeitraum festgesetzt.
  • Es wird aber nur für die letzten 6 Monate ausgezahlt.
  • Die rückwirkende Festsetzung kann sich auf an das Kindergeld anknüpfende Annexleistungen auswirken.  
  • In dem Festsetzungsbescheid wird zur Klarstellung auf die Auszahlungsbeschränkung hingewiesen.  

BFH Urteil vom 19.02.2020 - III R 66/18 (veröffentlicht am 30.07.2020)

Alle am 30.07.2020 veröffentlichten Entscheidungen.


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