Kindergeldanspruch bei mehraktiger Ausbildung
Nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der ab 1.1.2012 geltenden Fassung, wird für ein in Ausbildung befindliches Kind, welches das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet und bereits eine erstmalige Berufsausbildung abgeschlossen hat, Kindergeld nur gewährt, wenn das Kind keiner Erwerbstätigkeit mit einer mehr als 20 Stunden regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit nachgeht. Diese gesetzliche Regelung haben die Familienkassen (FK) bisher sehr eng ausgelegt, und in zahlreichen Fällen die Gewährung von Kindergeld versagt.
Der BFH hatte bereits mit Urteil vom 3.7.2014, III R 52/13 (BStBl II 2015, 152) entschieden, dass bei einem Kind, das im Rahmen eines dualen Studiums nach erfolgreichem Abschluss seines studienintegrierten Ausbildungsgangs sein parallel zur Ausbildung betriebenes Bachelorstudium fortsetzt, auch das Bachelorstudium als Teil einer einheitlichen Erstausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der ab 2012 geltenden Fassung zu werten sein kann.
Nun hat der V. Senat des BFH mit Urteil vom 15.4.2015, V R 27/14, entschieden, dass mehraktige Ausbildungsmaßnahmen Teil einer einheitlichen Erstausbildung sein können, so dass eine zwischenzeitliche Vollerwerbstätigkeit dem Kindergeldanspruch nicht entgegensteht.
Da das Urteil des BFH vom 3.7.2014 (a.a.O.) bereits im Bundessteuerblatt veröffentlicht wurde, ist die vorstehende Rechtsprechung nun von den FK anzuwenden. Dies eröffnet in der Praxis folgende Möglichkeiten:
1. Bisher ruhende Einspruchsverfahren wegen Kindergeld
Hatten Kindergeldberechtigte mit Hinweis auf die beim BFH zur Frage des Begriffs der erstmaligen Berufsausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG gegen die Ablehnung des Kindergeldes in vergleichbaren Fällen Einspruch eingelegt, können diese nun die Erteilung entsprechender Abhilfebescheide beantragen und das Kindergeld erhalten.
2. Weitere positive Auswirkungen
Wenn die Voraussetzungen für die Berücksichtigung eines volljährigen in Ausbildung befindlichen Kindes nach § 32 Abs. 4 EStG vorliegen, sind neben der Gewährung des Kindergeldes auch die Freibeträge für Kinder nach § 32 Abs. 6 EStG im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung zu gewähren. Bei höheren Einkommen kann dies im Rahmen der Günstigerprüfung nach § 31 EStG zu einer zusätzlichen Erstattung von Einkommensteuer führen. Durch den Ansatz der Freibeträge ergibt sich in jedem Fall eine Erstattung von Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag.
3. Kindergeld nachträglich beantragen
In Fällen, in denen die Gewährung des Kindergeldes nach der bisherigen Auffassung der FK abgelehnt worden ist, ist noch nicht alles verloren. Wurde der Anspruch auf Kindergeld bestandskräftig abgelehnt, erstreckt sich die Bindungswirkung des Ablehnungsbescheids auf die Zeit bis zum Monat der Bekanntgabe des Aufhebungs- oder Ablehnungsbescheids. Das bedeutet im Umkehrschluss, für die Zeit nach der Bekanntgabe des Ablehnungsbescheids kann (innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist) erneut ein Antrag auf Gewährung von Kindergeld gestellt werden.
Beispiel: Nachträgliche Beantragung
Der Sohn der Kindergeldberechtigten begann nach dem Abitur ein duales Studium zum Bachelor im Studiengang Steuerrecht. Neben dem Studium absolvierte er eine studienintegrierte praktische Ausbildung zum Steuerfachangestellten. Beides schloss er erfolgreich ab: Die Prüfung zum Steuerfachangestellten legte der Sohn bereits im Juni 2011 ab, der "Bachelor" wurde ihm im März 2013 - noch vor Vollendung des 25. Lebensjahres - verliehen. Die (FK) hob die Festsetzung des Kindergeldes ab Januar 2012 auf, weil sie der Auffassung war, dass die Erstausbildung des Sohnes bereits mit der Prüfung zum Steuerfachangestellten im Jahr 2011 beendet gewesen sei. Da der Bescheid über die Aufhebung des Kindergeldes ab Januar 2012 am 15.4.2012 erlassen wurde, kann nun ein erneuter Antrag auf Gewährung des Kindergeldes für Mai 2012 bis März 2013 gestellt werden.
Hinweis: Widerspruch zu § 9 Abs. 6 Satz 2 bis 5 EStG
Wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, legt der BFH nun den Begriff der Erstausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG so aus, dass diese erst abgeschlossen ist, wenn das von Eltern und Kind bestimmte endgültige Berufsziel erreicht ist. Diese Auslegung steht im Widerspruch zu der mit Wirkung ab 1.1.2015 in § 9 Abs. 6 Satz 2 bis 5 EStG eingeführten Neuregelung, wonach eine Berufsausbildung als Erstausbildung anzusehen ist, wenn eine geordnete Ausbildung mit einer Mindestdauer von 12 Monaten bei vollzeitiger Ausbildung und mit einer Abschlussprüfung durchgeführt wird. In beiden Vorschriften benutzt der Gesetzgeber den Begriff „erstmalige Berufsausbildung“. Lediglich in § 9 Abs. 6 Satz 2 bis 5 EStG hat er den Begriff näher definiert. Man darf gespannt sein, wie die Finanzverwaltung diesen Widerspruch lösen wird.
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