Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Nachforderungszinsen nach § 238 AO
Ausgangslage: Beschluss des BVerfG
Bereits mit Beschluss v. 3.9.2009 (1 BvR 2539/07, Haufe Index 2223004) hat das BVerfG entschieden, dass in der Höhe der Zinsen nach § 238 AO kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG zu sehen ist. Das BVerfG hat seine Entscheidung damit begründet, dass die Verzinsung von Steuerforderungen und Steuererstattungen nach § 233a AO einen Ausgleich dafür schaffen soll, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zwar jeweils spätestens zum Jahresende entstehen, aber zu unterschiedlichen Zeiten festgesetzt und fällig werden.
Die Regelung beruhe auf der typisierenden Annahme, dass derjenige, dessen Steuer zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt wird, gegenüber demjenigen, dessen Steuer bereits frühzeitig festgesetzt wird, einen Liquiditätsvorteil und damit auch einen potentiellen Zinsvorteil habe. Die Vollverzinsung diene damit insbesondere auch der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, weil sie die Unterschiede in der Steuererhebung ausgleiche, die zwischen Lohnsteuer-Zahlern und veranlagten (selbstständigen) Einkommensteuerpflichtigen bestehe.
BFH bestätigt bisherige Rechtsprechung
In einer aktuellen Entscheidung hat der BFH (Urteil v. 9.11.2017, III R 10/16, Haufe Index 11539357) seine bisherige Rechtsprechung bestätigt und entschieden, dass die Verzinsung nach § 238 AO auch in den Jahren 2012 und 2013 weder gegen den Gleichheitsgrundsatz noch gegen das Übermaßverbot verstoße. Eine Vorlage an das BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG komme nicht in Betracht, da der BFH nicht von der Verfassungswidrigkeit der Regelung überzeugt sei.
Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit liege nicht vor, da für die Beurteilung dieser Frage nicht nur auf die Anlagezinssätze, sondern auch auf die Finanzierungszinssätze abzustellen sei. Denn der Liquiditätsvorteil könne auch darin bestehen, dass eine im Fall der früheren Festsetzung des Nachzahlungsbetrags notwendige Finanzierung unterbleiben kann.
Soweit der Gleichheitsverstoß damit begründet werde, dass Steuerpflichtige, deren Steuer in der 15-monatigen Karenzzeit (§ 233a Abs. 2 AO) in zutreffender Höhe festgesetzt wird, anders behandelt würden als Steuerpflichtige, denen das FA nach Ablauf der Karenzzeit eine Nachzahlungsverpflichtung auferlege, verweist der BFH darauf, dass die in § 238 Abs. 1 festgelegte Zinshöhe nur auf Fälle Anwendung findet, in denen dem Grunde nach eine Zinspflicht besteht.
Vom BdSt unterstütztes neues Verfahren beim BFH
Auch das FG Münster (Urteil v. 17.8.2017, 10 K 2472/16, Haufe Index 11279075) hat entschieden, dass die Höhe der Nachzahlungszinsen nach § 233a AO in Höhe von 6 % gemäß § 238 AO für die Jahre 2012 bis 2015 verfassungsgemäß ist. Zur Begründung verweist das FG auf den Beschluss des BVerfG vom 3.9.2009 (a.a.O.) sowie auf die umfangreiche Rechtsprechung des BFH zu dieser Rechtsfrage und insbesondere auf das Urteil des BFH v. 1.7.2014 (IX R 31/13, Haufe Index 7258830).
Da der BFH in diesem Urteil offen gelassen habe, ob die Höhe der Verzinsung bzw. der auf 6 % festgelegte Zinssatz nach § 238 AO auch nach dem Jahr 2011 angesichts der Marktzinsen, welche sich dort auf einem relativ niedrigen Niveau stabilisiert hätten, noch verfassungsgemäß sei, hat das FG die Revision nach § 115 Abs. 1 Nr. 2 FGO zugelassen.
Begründung der Revision
Wie bereits im Klageverfahren tragen die Kläger zur Begründung ihrer Revision vor, dass die Höhe der Verzinsung mit einem Zinssatz von 6 % angesichts eines erzielbaren Zinses für langfristige Geldanlagen von 0,20 % bzw. 0,25 % fernab der Realität sei.
Die bisherige Rechtsprechung des BFH beziehe sich zum einen auf frühere Zeiträume, zum anderen seien die dort gezogenen Vergleiche nicht zutreffend. Es seien insbesondere die Sollzinsen für Dispositionskredite, die Effektivzinssätze für das Neugeschäft der deutschen Banken mit privaten Haushalten und die gesetzlichen Verzugszinsen als Vergleich herangezogen worden. Insgesamt sei ein Vergleich nur mit den Sollzinsen nicht hinreichend realitätsgerecht.
Es könne auch nicht als Rechtfertigung herangezogen werden, dass der hohe Zinssatz des § 233a AO gleichermaßen zugunsten wie zulasten der Steuerpflichtigen wirke. Es könne nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass die Effekte sich in der Person desselben Steuerpflichtigen ausgleichen. Zudem belaufe sich der Aufkommenssaldo von Nachforderungs- und Erstattungszinsen für 2014 und 2015 insgesamt auf mehr als 1,9 Mrd. EUR zugunsten des Fiskus. Auf jeden Fall überschreite der gegenwärtige Zinssatz von 6 % aufgrund des inzwischen verfestigten Niedrigzinsniveaus die Grenzen des Zulässigen.
Praxis-Tipp: Erneute Vorlage an BVerfG möglich
Es besteht die Chance, dass der III. Senat des BFH in diesem neuen Revisionsverfahren, welches vom Bund der Steuerzahler unterstützt wird, die Frage dem BVerfG erneut vorlegt, zumal der IX. Senat des BFH bereits in seinem Urteil vom 1.7.2014 (IX R 31/13, Haufe Index 7258830) ausgeführt hat, dass sich das Marktniveau für Verzinsungszeiträume ab dem Jahre 2012 auf einem dauerhaft niedrigen Niveau stabilisiert habe. Aufgrund dieser Tatsache - so der BFH - könne der Gesetzgeber gehalten sein, zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung zur Höhe der Zinsen auch unter den veränderten Umständen aufrechtzuerhalten ist.
Betroffene sollten daher unter Hinweis auf dieses neue Revisionsverfahren gegen die Festsetzung von Nachforderungszinsen Einspruch einlegen und das Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 AO beantragen.
Rechtmäßigkeit der Besteuerung von Erstattungszinsen bei gleichzeitiger Irrelevanz von Nachzahlungszinsen
Der BFH hat mit Urteil v. 15.4.2015 (VIII R 30/13, Haufe Index 8752426) entschieden, dass die Anordnung der Besteuerung von Erstattungszinsen als Einnahmen aus Kapitalvermögen im Vergleich zur Nichtabziehbarkeit der Nachzahlungszinsen nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz im Grundgesetz verstößt.
Ob jedoch die Besteuerung von Erstattungszinsen bei gleichzeitiger Irrelevanz von Nachzahlungszinsen tatsächlich rechtmäßig ist, muss aktuell das BVerfG in dem Verfahren 2 BvR 1711/15 klären. In vergleichbaren Fällen sollten Betroffene unter Hinweis auf das vorstehende Verfahren beim BVerf’G gegen die entsprechenden Steuerbescheide Einspruch einlegen und auf das Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 AO verweisen.
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