Frisst der Zeitgeist die nachhaltige Zeitenwende?

Die sozial-ökologische Transformation steckt aus vielerlei Gründen fest – bemerkt Daniel Schlee. Doch den ideologischen Grabenkämpfen können die verschiedenen Akteur:innen mit konkreten Lösungsansätzen begegnen: in Form von Brückenprodukten, neuen Begriffen oder „Shared Value“-Maßnahmen.

Im Jahr 2019 sorgt Greta Thunberg mit ihrem Schulstreik für ein weltweites Momentum und erreicht Erstaunliches: Aus ihrem Ein-Frau-Protest in Schweden entsteht Fridays for Future, das immense mediale Aufmerksamkeit auf den Klimaschutz lenkt und Nachhaltigkeit fest auf die politische und gesellschaftliche Agenda hebt. Die globale Bewegung entfaltet eine beeindruckende Mobilisierungskraft, die Entscheidungsträger:innen weltweit unter Druck setzt, ihre Klimaziele zu überdenken und Maßnahmen zu ergreifen. Gleichzeitig verändern die Demonstrationen das Konsumverhalten spürbar.

Sechs Jahre später ist die Stimmung merklich eine andere. Inzwischen stellen Teile der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft infrage, dass Nachhaltigkeit die Basis für eine lebenswerte Zukunft ist. Populismus, wirtschaftliche Unsicherheiten und geopolitische Spannungen haben dazu geführt, dass sich der sozial-ökologische Umbau verlangsamt, gestoppt oder sogar zurückgedreht wird. Prominentes Beispiel ist das Anti-ESG-Movement im amerikanischen Finanzsektor. Auch in Europa wird der Green Deal kontrovers diskutiert, ebenso das Verbrenner-Aus und die Reform der Agrarpolitik.

Wissenschaftlich kaum widerlegbar und doch kulturell ausgebremst

Eine globale Studie zeigt, dass das Bewusstsein für Umwelt- und Gerechtigkeitsfragen weltweit gestiegen ist. Heute wird mehr denn je über Nachhaltigkeit nachgedacht und viele Entscheidungen – privat wie öffentlich – daraufhin überprüft. Zugleich ist die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation wissenschaftlich kaum noch widerlegbar. Deshalb setzen ihre Gegner verstärkt darauf, den politischen und gesellschaftlichen Willen zu beeinflussen. Die Bauernproteste und die öffentliche Kritik an einer als übergriffig empfundenen „Verbotskultur“ zeigen, dass Polarisierung dazu beiträgt, dass die Bereitschaft zum Wandel wieder schwindet. Der Begriff „linksgrün“ wird immer häufiger verwendet, um progressive, gesellschaftliche und ökologische Ansätze zu marginalisieren. Dies verdeutlicht, dass ideologische Auseinandersetzungen zunehmend das Thema dominieren. Die Frage, ob der Zeitgeist die nachhaltige Wende ausbremst, ist letztlich eine kulturelle: Wollen wir Nachhaltigkeit als festen Bestandteil unserer Werte, Normen und Identität akzeptieren?

Nachhaltigkeit als Bedrohung? Der ideologische Kampf um Status und Wohlstand

Die Darstellung einer „linksgrünen Agenda“ schafft damit ein vermeintliches Feindbild: Eine kleine Elite profitiert von der sozial-ökologischen Transformation, während die „Normalbürger“, „Konservativen“ oder „Rechten“ den Verlust von Status, Wohlstand und hart erarbeiteten Lebensmodellen durch mehr Nachhaltigkeit fürchten müssen. Dieses negative Framing dominiert zunehmend den öffentlichen Diskurs und vermittelt, dass Nachhaltigkeit nur mit Verzicht und Deindustrialisierung einhergehen kann, statt Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg und individuelle Selbstverwirklichung zu sein. Der ideologische Kampf um die Frage „Wollen wir Nachhaltigkeit?“ wird mit konkreten Ängsten vor dem Verlust von Freiheit, Status und materiellem Wohlstand verknüpft und in die Frage umgewandelt: „Willst du verlieren und verzichten oder deinen Status quo bewahren?“ Der Alltag zeigt, dass es momentan überhaupt nicht gelingt, die unterschiedlichen Perspektiven von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bei diesem Thema zu vereinen. Stattdessen vertiefen sich die Brüche: Das Vertrauen in die Politik sinkt, das Wohlstandsversprechen der Wirtschaft verblasst, und das gemeinsame gesellschaftliche Zusammengehörigkeitsgefühl bricht weiter auseinander.

Weg von den Nachteilen, hin zu den Vorteilen

Wollen wir die zunehmende Spaltung überwinden und wieder zu einer gemeinsamen Vorstellung von Zukunft zurückfinden, gilt es die Sorgen vor Verlust und Verzicht ernst zu nehmen. Lediglich mit naturwissenschaftlichen Fakten zu kontern oder sie als reaktionären Unsinn abzutun, wie es manche Protestbewegungen vehement tun, bringt uns nicht weiter. Ob der Zeitgeist die Zeitenwende frisst, hängt am Ende vor allem davon ab, ob es uns gelingt, durch Sicherheit, Teilhabe und Selbstwirksamkeit das Identitätsdilemma der Menschen und der Gesellschaft aufzulösen. Dafür müssen wir den Fokus von den Nachteilen zurück auf die Vorteile lenken. Und aufzeigen, was nachhaltige Maßnahmen für verschiedene Lebensentwürfe bieten können.

Für politische, wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteur:innen ergibt sich daraus ein klarer Gestaltungsauftrag, um eine erfolgreiche sozial-ökologische Transformation voranzutreiben:

Nachhaltigkeit jenseits von „linksgrün“ neu definieren:
Sozial-ökologische Aspekte gilt es für verschiedene gesellschaftliche Milieus differenzierter zu übersetzen. Das bedeutet, dass Nachhaltigkeit unterschiedlich und auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten zu kommunizieren ist. Etwa, indem man ästhetische Gewohnheiten oder technologische und funktionale Eigenschaften berücksichtigt. Ein Beispiel dafür sind die Schuhmarken Allbirds und Veja: Die Hersteller muten visuell nicht „öko“ an, sind aber nachhaltig. Damit adressieren sie auch eine liberale Zielgruppe. Außerdem sollten Begriffe und Beschreibungen nuancierter genutzt werden. Organisationen wie Heimatwurzeln e. V. sprechen konservative Menschen gezielt mit einem entsprechend angepassten Auftreten an.

Alternative Zukünfte greifbar und erlebbar machen:
Unsicherheiten und Ängste lassen sich nicht durch mathematische Fakten und rationale Argumente auflösen. Stattdessen dienen Szenariotechniken und Future Visioning als Werkzeuge, um mögliche Zukünfte im Heute erfahrbar zu machen. Indem Unternehmen beispielsweise gemeinsam mit Kund:innen und Mitarbeiter:innen Zukunftsszenarien entwickeln und diskutieren, erlangen sie nicht nur ein tieferes Verständnis für neue nachhaltige Ideen und Produkte, sondern fördern auch die Bereitschaft zur Veränderung.

Widersprüchliche Bedürfnisse adressieren:
In unserer Gesellschaft ist nicht jede:r gleichermaßen bereit für Neues. Entsprechend gilt es nachhaltige Angebote zu differenzieren und anzupassen: Flexicurity-Modelle (sicherer Service, aber monatlich kündbar), Biofuels (Verbrenner-Auto, aber mit Kraftstoff, der aus Biomasse erzeugt wird) oder Ecovenience-Produkte (in der sozialen Dimension nachhaltig und sinnvoll, aber ohne Komfortverlust, wie etwa die „Share“-Produkte in Drogerie- und Supermärkten) dienen als „Brückenprodukte“ hin zu einem langfristig anderen Verhalten.

„Shared Value“-Ansätze fördern:
Indem verschiedene Stakeholder in einen Wertschöpfungsprozess eingebunden werden, lassen sich gezielt Widerstände abbauen. Warum also nicht beispielsweise umliegende Kommunen an den Erträgen von Windkraftanlagen beteiligen?

Wortschatz weiterentwickeln:
Begriffe wie „grün“, „nachhaltig“ oder „sustainable“ sind zunehmend negativ konnotiert. Daher gilt es positiv besetzte Begriffe wie „enkeltauglich“, „regenerativ“, „verantwortungsvoll“ oder „zirkulär“ zu kultivieren und zusätzlich neue Begriffe zu prägen, ohne beim Hören direkt Reaktanzen auszulösen.

Die Zukunft der sozial-ökologischen Transformation hängt davon ab, ob es gelingt, Nachhaltigkeit kulturell neu zu verankern und durch differenzierte Ansätze eine breite gesellschaftliche Akzeptanz zu schaffen. Nur so können wir die Spaltung überwinden und eine nachhaltige Zukunft für uns alle ermöglichen.