Kreislaufwirtschaftsranking: Deutschlands paradoxe Bilanz

Deutschland führt das Innovationsranking 2024 im Bereich Kreislaufwirtschaft an – und täte gut daran, den Erfolg nicht zu feiern. Philipp Böhm, Gründer und CEO von NEEW Ventures, mahnt, die Baustellen im Blick zu behalten.

Ein Rahmen für die Reduzierung des Primärrohstoffverbrauchs und die Förderung einer zirkulären Wirtschaftsweise in Deutschland: Vergangene Woche hat das Bundeskabinett die nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie (NKWS) beschlossen. Wenn sie auch nicht die verbindliche Handlungsvorgabe sein mag, die viele sich wünschen würden, ist sie doch zumindest ein klares Bekenntnis dazu, wie wichtig das Thema für unser Land ist. Die Beschlussvorlage ist lang und vielschichtig, vor allem ist ihr aber zu entnehmen: Es ist sehr schwer zu sagen, wo wir gerade stehen. 

Einen Versuch der Einordnung hat der Innovationsindikator 2024 vorgenommen. Die Studie von der Unternehmensberatung Roland Berger, dem Bundesverband Deutscher Industrie e. V., dem Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung und dem Leibniz-Institut für Europäische Wirtschaftsforschung hat unter anderem Schlüsseltechnologien von 35 Volkswirtschaften betrachtet. Darunter auch Recyclingtechnologien zur Rückführung von Materialien in den Stoffkreislauf – jene also, die für eine funktionierende, echte Kreislaufwirtschaft gebraucht werden. Deutschland gibt hier ein geradezu vorbildliches Bild ab, setzt sich von der Masse ab und erreicht vor allen anderen Volkswirtschaften den ersten Platz.

Wer jetzt allerdings die Notwendigkeit einer NKWS hinterfragt, weil wir „doch schon die besten sind”, macht einen Fehler: Wir sind zwar in einigen Dimensionen weiter als andere Volkswirtschaften. Uns jetzt aber einmal mehr selbst zum „Recycling-Weltmeister” zu gratulieren, birgt das Risiko, eine so wichtige Baustelle wie unsere Abfallwirtschaft vorschnell als erledigt abzuhaken. Viel eher laufen wir Gefahr, unsere erprobten und oft gelobten Muster nicht genug zu hinterfragen – mit der Folge, dass wir kaum Potenziale für neue Ansätze zulassen.

Von einer echten Kreislaufwirtschaft sind wir noch weit entfernt. Wir können kaum einen größeren Fehler begehen, als uns auf diesem ersten Platz auszuruhen – bloß weil andere noch weniger Stärken vorweisen können.

Deutschland ist stark in Patent- und Markenanmeldung

Sicher, wir werden nicht von heute auf morgen von einer linearen Wegwerfwirtschaft zu einer Kreislaufwirtschaft kommen. Und ein erster Platz ist ein erster Platz. Deswegen sollen auch die erreichten Erfolge nicht unerwähnt bleiben. Der Report sieht in Deutschland zum Beispiel im Bereich der Kreislaufwirtschaft ein „in allen Dimensionen wettbewerbsfähiges Innovationsökosystem”. Besonders hervorzuheben sind laut der Untersuchung die Anteile deutscher Patent- und Markenanmeldungen mit Bezug zur Kreislaufwirtschaft und auch das Handelsbilanzsaldo in Relation zur deutschen Bevölkerung sowie den weltweiten Exporten von Kreislaufwirtschaftstechnologien.

Das gilt auch in den anderen untersuchten Bereichen, etwa dem Anteil deutscher wissenschaftlicher Publikationen an allen Veröffentlichungen zum Thema Kreislaufwirtschaft, dem in Frühphasen eingesetzten Venture-Capital für Kreislaufwirtschafts-Projekte in Relation zum Bruttoinlandsprodukt und dem Anteil computerimplementierter Erfindungen beziehungsweise Software-Patenten. An allen Erfindungen im Bereich der jeweiligen Schlüsseltechnologie belegt Deutschland gute Plätze, muss sich aber bereits anderen Ländern geschlagen geben. Hier deutet sich schon an: Der erste Platz ist mit Vorsicht zu genießen. 

Innovationsindikator 2024: Kein Grund für falsches Ausruhen

Deutschland ist von echter Kreislaufwirtschaft noch weit entfernt. Die deutsche Innovationsfähigkeit in dem Bereich, die in dem Ranking betrachtet wurde, ist daher von großer Bedeutung: Je besser wir hier aufgestellt sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir die relevanten Kreisläufe früher schließen und international nachgefragte Lösungen zu bieten haben. Daher ist es von größter Bedeutung, dass alle an dem Innovationsprozess Beteiligten verstehen, dass sie in diesem Bereich aktiv sein und bleiben müssen. Ein erster Platz im Innovationsranking vermittelt genau das Gegenteil. Er lädt fälschlicherweise zum Ausruhen ein. 

So fällt bei genauer Betrachtung auf, dass es ausgerechnet die Digitalisierung ist, bei der Deutschlands Kreislaufwirtschaft Schwachstellen aufweist. Patent- und Markenanmeldungen sind ohne Zweifel wichtig, es stellt sich aber die Frage: Werden es nicht gerade computerimplementierte Erfindungen sein, die uns auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft entscheidend voranbringen werden? Wenn zum Beispiel in Anlagen zur Abfallaufbereitung und -behandlung oft noch mit Stift und Papier und ohne flächendeckende Internetverbindung gearbeitet wird, dann brauchen wir als Kreislaufwirtschaft noch nicht über den Einsatz von Internet-of-Things oder Künstliche Intelligenz sprechen. 

Dazu kommt, dass in dem Ranking die geltende Regulatorik zur Abfallwirtschaft nicht in Betracht gezogen wurde. Um Innovationsstärke wirklich beurteilen zu können, ist es auch von großer Bedeutung, sich anzusehen, inwiefern daran gearbeitet wird, die bestehenden Systeme zu erhalten und wie viel innovatives Potenzial darauf verwendet wird, sie wirtschaftlich attraktiv zu machen. Langfristig wird sich die Kreislaufwirtschaft nur durchsetzen, wenn sie für alle Beteiligten attraktiver als die vorhandene Einweg- bzw. Recycling-Abfallwirtschaft ist. Eine Beurteilung der Innovationskraft der deutschen Kreislaufwirtschaft kann daher nur in Relation zur Innovationskraft der deutschen Abfallwirtschaft vorgenommen werden.

Kreislaufwirtschaft muss sich lohnen

Anders als gegebenenfalls durch die Studie angedeutet, ist die Kreislaufwirtschaft kein Projekt, das die Bundesregierung oder ein einzelnes Unternehmen für Deutschland umsetzen könnte. Es braucht die Zusammenarbeit aller Stakeholder: Ein Netzwerk von Startups über den deutschen Mittelstand bis in die Industrie, von kommunaler Politik zu Wirtschaftsverbänden, eine Allianz, die den Kreis schließen will. Damit es dazu kommen kann, müssen aber Anreize geschaffen und aufgezeigt werden. Aktuell profitieren noch zu viele Geschäftsmodelle von der linearen Wertschöpfung. Das behindert den Fortschritt. Wenn unsere Ressourcen wirklich nachhaltig genutzt und in einen Kreislauf geführt werden sollen, müssen wir Abfall ganz anders denken und neue Geschäftsmodelle fördern. 

Patente und Marken in der Kreislaufwirtschaft sind ein Zeichen dafür, dass sich schon etwas tut. Wir stehen nicht bei Null, wir sind auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft. Aber: Wir dürfen nicht den Fehler machen, uns für kleine Fortschritte zum Klassenprimus zu erklären und dabei den großen Wurf aus den Augen zu verlieren. Die Lösungen, die uns wirklich voranbringen, bekommen wir nur, wenn alle Beteiligten nicht nur das gleiche Problem, sondern vor allem die gleichen Chancen sehen. Wer einen Wirtschaftszweig ändern möchte, muss dafür sorgen, dass sich an der veränderten Wirtschaft Geld verdienen lässt. 

Das Innovationsranking 2024 zeigt: Der Anfang ist gemacht. Der Weg ist aber noch weit. Mit einer Nationalen Kreislaufwirtschaftsstrategie könnten wir den nächsten Schritt gehen. 


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