Interview Goran Mazar, KPMG: Pragmatismus statt Perfektion

Im Interview erläutert Goran Mazar, wie Unternehmen pragmatisch und technologieoffen auf die Klimakrise reagieren können. Er betont die Bedeutung kurzfristiger Lösungen, die Verknüpfung von Nachhaltigkeit mit Unternehmensstrategien und die Notwendigkeit, schnell zu handeln, um langfristige Klimaziele zu erreichen.

Unternehmen müssen sich angesichts der Klimakrise neu erfinden, aber es ist besser, Emissionen schnell durch Brückentechnologien zu reduzieren, als lange auf die perfekte Lösung zu warten. So Goran Mazar, Head of ESG and Automotive EMA & Germany bei KPMG. Schließlich sei schnelles Handeln entscheidend, um Kipppunkte im Klimawandel zu vermeiden. Ein Gespräch über den Wandel in der Automobilindustrie, was deutsche Unternehmen von China lernen können und den Umgang mit regulatorischen Herausforderungen.

Herr Mazar, KPMG hat in der Studie „Nachhaltig steuern“ untersucht, inwieweit Unternehmen ihre Strategien bereits an ESG ausrichten. Wie weit sind deutsche Unternehmen?

Goran Mazar: Ich bin seit über 20 Jahren in der Strategieberatung tätig und muss sagen, dass das Thema Nachhaltigkeit bei Vorständen und Geschäftsführern noch nie so präsent war wie heute. Es ist definitiv ein Top-Thema für Führungskräfte. In unserer Befragung wurde deutlich, dass Unternehmen auch in diesen schwierigen Zeiten weiter in Digitalisierung, ESG und neue Geschäftsmodelle investieren. Nachhaltigkeit ist nicht mehr nur ein Compliance-Thema, sondern eine strategische und operative Herausforderung. Das liegt auch daran, dass sich das Konsumentenverhalten verändert. Im Automobilbereich zum Beispiel sind viele Kunden nicht mehr am Besitz eines Autos interessiert, sondern an Mobilität. Dies spiegelt sich auch in den Verkaufszahlen wider: In Europa wurden im Jahr 2019 noch 20,7 Millionen Autos verkauft, im Jahr 2023 nur noch 17,7 Millionen. Das entspricht einem Minus von 14,5 Prozent. Und wenn Autos gekauft werden, dann auch Hybrid- oder Elektrofahrzeuge. Für Zulieferer, die stark vom Verbrennungsmotor abhängig sind, ist dies ein doppeltes Problem, da ein erheblicher Teil ihres Umsatzes wegfällt – entweder durch die schwindende Nachfrage oder durch neue Technologien. Das macht ESG zu einem wichtigen strategischen Thema, vor allem im Automobilsektor.

Goran Mazar, KPMG

Sehen Sie Kundinnen und Kunden als die stärksten Treiber für Nachhaltigkeitsstrategien an?

Im B2C-Bereich sehen wir, dass das Konsumentenverhalten eine starke Rolle spielt. Neue Wettbewerber, insbesondere aus China, verändern die Landschaft der Elektrofahrzeuge. Drei der fünf größten Hersteller von Elektrofahrzeugen kommen mittlerweile aus China. Im B2B-Bereich ist ESG ebenfalls relevant, da viele Geschäftskunden Transparenz fordern und ESG-Kriterien in ihre Berichterstattung aufnehmen müssen. Dies hilft ihnen auch, ihre eigenen KPIs zu verbessern. Bei produzierenden Unternehmen liegt ein großer Teil der Wertschöpfung oft bei Zulieferern, so dass ein direkter Zusammenhang zwischen Produktinnovation und ESG-Performance besteht. Banken und Kapitalmarktteilnehmer fordern immer mehr Transparenz und Verbesserungen im ESG-Bereich. Für den CFO wird ESG somit zu einer Frage der Investitionen in resiliente Geschäftsmodelle. Auch beim Thema Fachkräftemangel spielt ESG eine Rolle. Rund 40 Prozent der Hochschulabsolventen geben an, dass Nachhaltigkeit ein Entscheidungskriterium bei der Wahl des Arbeitgebers ist.

„Unternehmen sollten ESG als einen Werthebel betrachten“

Nun gibt es auch Menschen in Unternehmen, die ESG und Nachhaltigkeit als Hype abtun. Wie können Unternehmen damit umgehen?

Es gibt keine Branche, die nicht von ökologischen und sozialen Veränderungen betroffen ist. Wasser ist zum Beispiel ein großes Thema. Unternehmen, die Halbleiter oder Batterien herstellen, benötigen enorme Mengen an Wasser. Auch der Transport von Gütern auf Flüssen ist betroffen. Unternehmen sollten strategisch denken und erkennen, dass ESG nicht nur schöne Kennzahlen liefert, sondern für die langfristige Überlebensfähigkeit entscheidend ist. Unternehmen sollten ESG als Werthebel betrachten, der sowohl die Ertrags- als auch die Kostenseite beeinflusst. Studienergebnisse zeigen, dass bereits 47 Prozent der Unternehmen in der Berücksichtigung von ESG einen Wettbewerbsvorteil sehen, diese Zahl wird weiter steigen.

ESG liefert nicht nur schöne Kennzahlen, sondern ist für die langfristige Überlebensfähigkeit entscheidend.

Der Wettlauf ist eröffnet

Sie haben bereits den Automobilsektor angesprochen. Wie schätzen Sie dessen Entwicklung ein, insbesondere mit Blick auf die Konkurrenz aus Asien?

Der größte Markt für die Automobilindustrie ist China. Die chinesischen Unternehmen haben früh erkannt, dass sie die jahrzehntelang aufgebaute Verbrennertechnologie der westlichen Hersteller nicht einholen können. Stattdessen haben sie direkt in die Elektromobilität investiert und diese mit hoher Intensität vorangetrieben. Unterstützt durch die Industriepolitik und den großen Heimatmarkt haben sie einen Sprung nach vorne gemacht und sich auf Batterie- und Softwarekompetenz konzentriert. Deutsche Automobilunternehmen stehen vor der Herausforderung sowohl Verbrenner- als auch Elektrofahrzeuge zu managen, was hohe Investitionen erfordert. Dennoch gibt es in der deutschen Industrie eine starke Substanz und es fließen zusätzliche Mittel in diese Bereiche. Der Wettlauf ist eröffnet.

Auch im Bereich der erneuerbaren Energien wird in China ebenfalls massiv investiert – und Umsatz generiert. Können deutsche Unternehmen davon lernen?

Da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Die wenigsten Unternehmen werden ESG rein altruistisch umsetzen, sondern es muss immer auf Business Cases heruntergebrochen werden. Es ist wichtig sowohl die Initiativen als auch die Konsequenzen des Nichtstuns zu vergleichen. In unserer aktuellen Studie, die wir gemeinsam mit dem Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, VDMA, veröffentlicht haben, haben wir festgestellt, dass jedes zweite Unternehmen in Deutschland Klimarisiken noch nicht ausreichend in sein Risikomanagement integriert hat. Das ist besorgniserregend, wenn man sich die Schäden durch Naturkatastrophen vor Augen führt - etwa das Hochwasser in Deutschland im Jahr 2021, das Schäden von über 30 Milliarden Euro verursacht hat oder der Hurrikan in Florida im Jahr 2023, der Schäden von 100 Milliarden US-Dollar verursacht hat. Unternehmen sollten diese Risiken kalkulieren und Gegenmaßnahmen entwickeln und dabei die Klimarisiken der Zulieferer mitberücksichtigen. Gleichzeitig bieten diese Herausforderungen Chancen: In unserer Studie gehen 73 Prozent der Unternehmen davon aus, dass sie durch Klimarisiken neue Produkte und Dienstleistungen entwickeln können, die in den nächsten zehn Jahren bis zu 200 Milliarden Euro Umsatz generieren könnten. Europa muss diese Chancen nutzen.

Regulatorische Herausforderungen bewältigen, ohne die Organisation zu überfordern

Das klingt nach dem, was in der doppelten Materialitätsanalyse gefordert ist: Risiken und Chancen analysieren. Einige Verbände – wie der von Ihnen gerade angesprochene VDMA – kritisieren jedoch, dass die Nachhaltigkeitsberichterstattung die Unternehmen überfordert und vom Handeln abhält. Sehen Sie das auch so?

Zwei Herzen schlagen in meiner Brust. Wir brauchen sowohl Anreize als auch Vorschriften. Wir befinden uns mitten in einer nachhaltigen Revolution, ähnlich der industriellen und digitalen Revolution. Industriepolitik ist hierbei entscheidend. Die USA setzen stark auf Anreize, wie den IRA (Inflation Reduction Act, Anm. d. Red.), während Europa mit der CSRD eine strikte Regulatorik hat. Beides ist notwendig. Die CSRD fordert nicht nur Berichte, sondern auch Verbesserungen. Unternehmen merken schnell, dass sie nicht nur berichten, sondern auch Maßnahmen ergreifen müssen. Dies erfordert eine Kombination aus Nachhaltigkeit und Unternehmensstrategie. Der Bericht fließt dann in den Lagebericht ein, was Auswirkungen auf den Kapitalmarkt und finanzierende Banken hat. Ziel ist es, Kapitalströme zu lenken und Unternehmen dazu zu bringen, resilienter mit ESG-Themen umzugehen.

Wir befinden uns mitten in einer nachhaltigen Revolution, ähnlich der industriellen und digitalen Revolution.

Wie können Unternehmen die Anforderungen der CSRD bewältigen, ohne überfordert zu werden?

Ein fünfstufiger Ansatz kann helfen:

  1. Analyse der doppelten Wesentlichkeit: Unternehmen müssen verstehen, welche Auswirkungen sie u.a. auf Klima und Natur haben und umgekehrt.
  2. Business Cases entwickeln: ESG muss in die Unternehmensstrategie integriert und finanziert werden.
  3. Berichterstattung: Die Einhaltung der Regulatorik muss transparent und präzise erfolgen, um compliant zu sein.
  4. Organisation und Prozesse: ESG-Themen müssen in der Governance und den relevanten Organisationseinheiten integriert werden.
  5. Technologie nutzen: Software kann helfen, Daten effizient und sicher zu sammeln und zu berichten.

Dieser strukturierte Ansatz hilft, die Herausforderungen zu bewältigen, ohne die Organisation zu überfordern.

Einige Nachhaltigkeitsdimensionen noch wenig berücksichtigt

Ihre Studie zeigt, dass viele Unternehmen bereits Umweltaspekte berücksichtigen, aber bei den Dimensionen Soziales und Governance noch Nachholbedarf besteht. Woran liegt das und wie können Unternehmen hier besser werden?

Durch internationale Vereinbarungen, wie das Pariser Klimaabkommen, haben sich viele Unternehmen frühzeitig mit Dekarbonisierung und Umweltthemen auseinandergesetzt. Themen wie Biodiversität oder Kreislaufwirtschaft sind aber noch nicht ausreichend abgedeckt. Soziale Aspekte und Governance-Fragen werden jetzt immer relevanter, insbesondere durch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz oder auf EU-Ebene der Corporate Sustainability Due Diligence, kurz CSDDD. Unternehmen haben sich zu fragen, wie sie Diversität fördern und Menschenrechte in der Lieferkette schützen können. Auch die Auswirkungen auf Communities und Kunden müssen berücksichtigt werden. Governance bedeutet, diese Themen im gesamten Unternehmen zu verankern. Ein Skandal in der Lieferkette kann verehrende Wirkungen auf die Reputation und gegebenenfalls auf die Top-line haben.

Welche Dimension der Nachhaltigkeit wird bisher am meisten unterschätzt?

Biodiversität ist ein oft vernachlässigtes, aber zunehmend wichtiges Thema. Zwischen Klima und Biodiversität besteht ein enger Zusammenhang. Der Verlust an Biodiversität hat direkte Auswirkungen auf unter anderem die Wasserverfügbarkeit und damit auf Produktionsprozesse. Biodiversität spielt in vielen Sektoren wie Landwirtschaft, Fischerei und Energiegewinnung eine entscheidende Rolle. Unternehmen müssen sich verstärkt mit diesen Themen auseinandersetzen, um ihre Geschäftstätigkeit langfristig zu sichern. Die durch Eukalyptus-Monokulturen verursachten Brände in Portugal sind ein Beispiel dafür, wie der Verlust von Biodiversität zu großen Risiken führen kann. Biodiversität und Klima sind eng miteinander verknüpft und beeinflussen viele Bereiche der Wirtschaft.

Zwischenlösungen und Langfriststrategien

Selbst als die Weltwirtschaft während der Corona-Pandemie fast zum Erliegen kam, sanken die globalen Treibhausgasemissionen nur um 6 Prozent. Wie kann die Wirtschaft einen effektiveren Beitrag zum Klimaschutz leisten als durch Geschäftsaufgabe?

Es ist gut, dass es Initiativen wie die Weltklimakonferenz gibt, die meiner Ansicht nach mehr bewirkt, als ihr Ruf vermuten lässt. Ohne die Vereinbarungen von Paris würden wir immer noch auf eine Erwärmung von 4 Grad zusteuern, jetzt sind es 2,5 Grad. Das ist zwar noch weit vom 1,5-Grad-Ziel entfernt, aber ein großer Fortschritt. Ein Anstieg um 4 Grad würde bedeuten, dass Permafrostböden auftauen und große Mengen an Treibhausgasen freigesetzt werden. Die sozialen und finanziellen Schäden sind unermesslich.

Jedes Unternehmen muss darüber nachdenken, wie es sich dekarbonisieren kann. Aufgeben ist keine Option, vielmehr geht es darum, sich neu zu erfinden. Die Kreislaufwirtschaft ist ein Beispiel dafür, wie durch neue Geschäftsmodelle und Stoffkreisläufe je nach Sektor bis zu 50 Prozent der CO2-Ziele erreicht werden können. Entscheidend ist auch Technologieoffenheit. Wir müssen mehr wagen und verschiedene Technologien wie zum Bespiel wie Carbon Capture and Storage (CCS) ausprobieren, um den CO2-Fußabdruck zu reduzieren. CCS ist eine wichtige Übergangslösung, bis vollständig erneuerbare Geschäftsmodelle etabliert sind.

Läuft uns die Zeit davon?

Absolut. Zeit ist ein kritischer Faktor. Wenn wir in den nächsten zehn Jahren unseren CO2-Ausstoß nicht signifikant reduzieren, werden wir Kipppunkte erreichen. Das Grönlandeis beispielsweise schmilzt, und wenn es einmal geschmolzen ist, können wir es nicht wieder einfrieren. Wir sollten Interimslösungen wie Carbon Capturing und andere Technologien nutzen, um kurzfristig die CO2-Belastung zu senken und langfristig nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Es ist wichtig, dass wir jetzt handeln, um diese Kipppunkte zu vermeiden. Wir dürfen nicht zu dogmatisch auf die perfekte Lösung warten, während die Zeit verstreicht.