Interview: Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

Jeder Beruf hat seine psychischen Belastungen, ob Zeitdruck, Unterforderung oder emotionale Themen. Warum ist es wichtig, diese Belastungen zu kennen und wie kann man darauf reagieren, damit sie nicht zum Problem werden?

Die Haufe-Redaktion sprach mit Oliver Walle über das "wie und warum" von Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen. Oliver Walle berät als selbständiger Unternehmer im Bereich des Betrieblichen Gesundheitsmanagements. Zusätzlich ist er Dozent an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement sowie der BSA-Akademie.

Haufe Online Redaktion: Herr Walle, dass der Dachdecker abstürzen kann, ist leicht vorstellbar, nachweisbar und "messbar". Bei psychischen Belastungen ist das nicht so eindeutig ersichtlich. Wie kann man im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung die psychischen Belastungen an einem Arbeitsplatz messen? Und wer kann das machen?

Geeignet sind Berufsgruppen, die mit Menschen arbeiten, die Verhaltensweisen erkennen und Empathie zeigen können. Das kann ein Psychologe, ein allgemeiner Gesundheitsberater oder ein Gesundheitsmanager sein, der genau in diesem Bereich qualifiziert ist.

Eine Gefährdungsbeurteilung ist in erster Linie nicht dafür da, Probleme nachzuweisen. Sie sollte idealerweise frühzeitig anzeigen, dass es ein Problem geben und wie es vermieden werden kann. Im Studium an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement lernen die Studenten z. B. Fragenbögen zu erstellen, anzuwenden und auszuwerten. Damit lassen sich psychische Belastungen am Arbeitsplatz recht gut messen. Diese Themen sind auch Inhalte der BGM-Qualifikation an der BSA-Akademie.

Neben der Befragung gibt es noch die Möglichkeit der Beobachtung: Die Führungskraft im Betrieb, ein Gesundheitsberater, eventuell der Betriebsarzt und der Vertreter des Betriebsrats bewerten nach einem festgelegten Verfahren bestimmte Arbeitssituationen. Außerdem überprüfen sie den Handlungsspielraum des Beschäftigten.

Hat ein Beschäftigter keinen oder nur wenig Handlungsspielraum, kann eine intensive Arbeitsanforderung zu einer psychischen Belastung mit negativen Folgen für die Gesundheit führen. In einer zweiten Stufe sollte dann z. B. in einem Workshop mit dem Mitarbeiter erarbeitet werden, welche Themen Stress auslösen, wann es dazu kommt und ob und in welcher Form psychische Belastungen eine Gesundheitsbeeinträchtigung zur Folge haben.

Haufe Online Redaktion: Gibt es Berufe oder Branchen, bei denen psychische Belastungen eine größere Rolle spielen als bei anderen?

Ja, das sind Berufe mit Emotionsarbeit, in denen Menschen mit Menschen arbeiten, allen voran die Pflegeberufe. Hier gibt es Zeitdruck in der Form, dass für jede Person nur eine bestimmte Zahl an Minuten zur Verfügung steht. Dazu kommt noch der Schichtdienst und der emotionale Faktor, also Gespräche führen, nett sein, mit Schmerz, Trauer, Angst usw. umgehen. Diese Mischung stellt eine enorme Belastung dar.

Auch der Rettungsdienst, die Feuerwehr oder Polizei sowie Lehrer sind psychisch stark gefordert. Ich berate zurzeit eine Feuerwache mit 45 Mitarbeitern. Interessanterweise nehmen die Feuerwehrmänner die Einsätze als weniger belastend wahr als den Wachdienst, also die Zeiten zwischen den Einsätzen.

Haufe Online Redaktion: Und warum müssen psychische Belastungen auf einer Baustelle beurteilt werden?

Dort dominiert noch immer die handwerkliche, körperliche Arbeit. Doch Arbeiter auf Baustellen stehen unter einem gigantischen Zeitdruck. Da muss z. B. der Rohbau vor dem Winter fertig sein. Doch dazu muss die Witterung mitspielen. Sie sehen, auch hier macht es die Mischung, die zum Problem werden kann: schwere körperliche Arbeit, plus Umgebung und Witterung, plus zeitlicher Faktor.

Haufe Online Redaktion: Aber hat ein Bauunternehmer nicht andere Sorgen, als sich um das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter zu kümmern?

Das psychische Wohlbefinden ist nicht seine Hauptaufgabe, gehört aber zu seiner Fürsorgepflicht. Die Verantwortlichen im Unternehmen, also die Bauleiter oder Poliere, sind in diesem Bereich meist nicht ausgebildet. Das Thema ist für sie neu und sie beginnen sich erst damit auseinanderzusetzen.

Belegt man das Thema psychische Belastungen allerdings mit alltäglichen Situationen, kann jeder etwas damit anfangen. Wenn die Baustelle unter Wasser steht, alle länger arbeiten müssen, um den Zeitrahmen einhalten zu können, zu Hause zusätzlich Stress entsteht, weil das Familienleben zu kurz kommt, dann weiß jeder, wie sich das anfühlt und dass eine solche Situation durchaus belastend sein kann.

Oder etwa die Rente mit 67. Da überlegt manch einer auf der Baustelle, wie er es überhaupt bis 60 schaffen soll. Und der Unternehmer überlegt, welche Möglichkeiten er hat, dass seine Mitarbeiter so lange bei ihm bleiben können.

Haufe Online Redaktion: Was ist für Sie das überzeugendste Argument, psychische Belastungen am Arbeitsplatz zu überprüfen?

Ich vergleiche die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen gerne mit Vorsorgeuntersuchungen. Auch dort ist es ein Fehler nicht hinzugehen, weil man Angst vor dem Ergebnis hat. Ich drehe also die Frage gerne um: „Was passiert, wenn wir es nicht tun? Könnten Sie auf x Prozent Ihrer Belegschaft verzichten, wenn sie langfristig ausfällt?“ In beiden Fällen ist es wichtig, Gefahren so frühzeitig wie möglich zu erkennen.

Jeder Verantwortliche muss sich bewusst sein, dass psychisch Erkrankte oft eine lange Krankengeschichte haben. Wer mit Depressionen oder Angststörungen in eine Klinik muss, hat bereits einen Krankheitsverlauf von durchschnittlich 5 bis 10 Jahren hinter sich. Und bei den Frühberentungen aufgrund verminderter Erwerbsfähigkeit führen psychische Gründe mit rund 40 Prozent die Statistik an.

Was aber auch mal gesagt werden muss: Belastung ist nicht gleich Erkrankung, wie es gerne dargestellt wird. Bei den meisten Gefährdungsbeurteilungen kommt oft ein besseres Ergebnis als befürchtet heraus. Und: Psychische Belastungen machen nicht per se krank. Das zeigen unter anderem die Ergebnisse im Stress-Report 2012. Dort gaben 52 Prozent der Befragten an unter Zeitdruck arbeiten zu müssen. Aber lediglich 34 Prozent hatten ein Problem damit.

Haufe Online Redaktion: Für wie wichtig erachten Sie es, dass das Thema psychische Belastungen im Arbeitsschutzgesetz verankert ist?

Es vereinfacht die Diskussion: Müssen wir das tun oder nicht? Es steckt ja sowieso in anderen Auflagen und Verordnungen drin. Durch das Arbeitsschutzgesetz ist es in seiner Wichtigkeit gestärkt.

Haufe Online Redaktion: Wie vermitteln Sie Ihren Studenten und Teilnehmern, Sinn und Zweck der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen?

Zunächst aus der Sichtweise der Erfüllung der Gesetze, Unternehmen setzen das betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) oftmals dafür ein, Unfälle und Fehlzeiten zu reduzieren. Damit ergänzt BGM den gesetzlich verpflichtenden Arbeitsschutz.

BGM heißt aber auch Prävention. Heute weiß man, dass der Ansatz dafür ganzheitlich sein muss, denn Fehlzeiten haben viele Ursachen: physische, psychische oder soziale. Und ich kann keinen Aspekt davon unberücksichtigt lassen.

Haufe Online Redaktion: Wann wurde an Ihrem eigenen Arbeitsplatz das letzte Mal eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt und mussten danach Maßnahmen ergriffen werden und wenn ja, welche?

Mein eigenes Unternehmen ist ISO 9001 zertifiziert und so werde ich jedes Jahr auch nach der Gefährdungsbeurteilung gefragt. Das gehört zur Unternehmensroutine.

Auch die Deutsche Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement und die BSA-Akademie unterliegen den Qualitätsanforderungen nach ISO 9001. Als Dozent habe ich einen Lehrplanrahmen, aber auch Möglichkeiten an der Ausgestaltung mitzuarbeiten. Und genau diese Handlungsspielräume wirken gesundheitsförderlich. Mit der doppelten Herausforderung als Unternehmer und Dozent habe ich zwar viele Aufgaben und Termine, doch das ist für mich keine krankmachende Belastung.

Bei den rund 4.000 Studenten und über 250 Mitarbeitern bundesweit treten natürlich auch immer einmal psychische Belastungen auf, die zum Problem werden können. Deshalb hat die Hochschule eine Sprechstunde für Studenten eingerichtet, die etwa unter Termindruck, Prüfungsangst oder Schlafstörungen leiden. Diese Möglichkeiten können natürlich auch die Mitarbeiter nutzen. Eine einfache, aber effektive Maßnahme.

Herr Walle, vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Bettina Brucker M. A., freie Journalistin und Autorin


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