Nudging: Auch im Arbeitsschutz ein sinnvoller Weg?
Dr. Matthias Hartwig von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) hat, erstmalig in Deutschland, ein mehrjähriges Forschungsprojekt durchgeführt, das zeigen sollte, inwiefern Nudging-Strategien einen Mehrwert für den Arbeitsschutz haben könnten.
Im Interview beantwortet der BAuA-Experte, zu dessen Forschungsschwerpunkten die soziotechnische Gestaltung von Arbeitssystemen sowie die diesbezüglichen Einflussfaktoren menschlichen Verhaltens gehören, grundlegende Fragen zu den ethischen, strategisch-verhaltenspsychologischen sowie technologischen Herangehensweisen des Nudging im Kontext von Gesundheit und Sicherheit im Unternehmen.
Nudging setzt nicht auf rationales Kosten-Nutzen-Verhalten
Haufe Online Redaktion: Herr Dr. Hartwig, was versteht man eigentlich ganz grundsätzlich unter dem Begriff Nudging im Kontext des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes?
Matthias Hartwig: Der Begriff Nudge wurde von den Forschern Richard Thaler und Cass Sunstein als Bezeichnung für die gezielte Gestaltung von Entscheidungsmöglichkeiten geprägt, um Verhalten von Personen zu beeinflussen. Ausgeschlossen werden dabei direkter Zwang und finanzielle Belohnung. Das Konzept beruht auf der Annahme, dass Entscheidungen oft nicht nur auf Basis rationaler Kosten-Nutzen-Erwägungen getroffen werden, sondern auch Faktoren wie soziale Normen, begrenzte Aufmerksamkeit, Emotionen und Gewohnheiten eine große Rolle spielen.
Nudging macht sich genau solche Aspekte zunutze, weswegen es sich um eine eher indirekte und weiche Form der Verhaltensbeeinflussung handelt, bei der die letztendliche Entscheidungshoheit bei der Person verbleibt. Anders ist dies bei härteren Eingriffen wie beispielsweise Verboten, bei denen “falsches” Verhalten mit Konsequenzen sanktioniert wird.
Im Kontext von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit kann dies beispielsweise bedeuten, auf gesunde Verhaltensweisen wie mehr Bewegung bei Bürotätigkeiten aufmerksam zu machen oder dieses Verhalten möglichst attraktiv zu gestalten. Ein betriebsinternes finanzielles Bonussystem bei Teilnahme an Gesundheitskursen würde dagegen nicht darunterfallen.
Transparenz und ethischer Anspruch sind Voraussetzungen für den Erfolg
Haufe Online Redaktion: Werden sich Nudging-Maßnahmen zumindest in Hinsicht auf das betriebliche Gesundheitsmanagement weiter durchsetzen?
Matthias Hartwig: Nudging als wissenschaftlicher Begriff ist noch recht jung; gleichzeitig werden Maßnahmen, die dem Grundgedanken folgen, schon seit Langem unsystematisch genutzt. Das gilt insbesondere im Marketingbereich: Beispielsweise werden im Supermarkt teurere Markenprodukte eher auf Augenhöhe stehen, preiswerte aber in der etwas schwieriger zu erreichenden Bückzone ganz unten im Regal. Diese gezielte Lenkung von Aufmerksamkeit ist seit langer Zeit etabliert und folgt dem Grundgedanken des Nudgings.
Aber der systematische Einsatz im Bereich Gesundheit bei der Arbeit ist noch nicht sehr etabliert. Daher ist anzunehmen, dass das Potential für Nudging für gesunde Arbeit noch nicht ausgeschöpft ist und hier noch Raum für neue Ansätze besteht. Dies gilt insbesondere für Arbeit mit modernen Technologien und Assistenzsystemen. In der modernen Mensch-Maschine-Interaktion gibt es durch die intelligenten Steuerungsmechanismen und den intensiven Informationsaustausch gute Möglichkeiten, Nudges zu platzieren. Das können zum Beispiel Hinweise auf sicheres Verhalten sein, die automatisch genau im relevantesten Moment angezeigt werden.
Ein Potential an modernen Arbeitsplätzen ist also vorhanden. Eine entscheidende Frage für die Durchsetzung und flächendeckende Etablierung wird sein, ob das Konzept von Arbeitsgebern und Arbeitnehmern als sinnvoller Baustein angenommen wird. Dazu ist vor allem eine transparente Gestaltung der Maßnahmen anhand ethischer Grundsätze erforderlich und eine Verständigung darüber, welche Verhaltensweisen ein Nudging rechtfertigen.
Nudging kann Umsetzungsdefizite verbessern
Haufe Online Redaktion: Werden Nudges in Zukunft auch im Bereich Arbeitssicherheit angewendet?
Matthias Hartwig: Nudging ist zunächst einmal als alleinige Maßnahme zur Sicherstellung von Sicherheit ungeeignet. Üblicherweise ist der mögliche gesundheitliche Schaden bei Fehlverhalten so hoch und kann auch bei einzelnen unsicheren Handlungen auftreten, dass im Rahmen des T-O-P Prinzips zunächst auf technische und organisatorische Maßnahmen gesetzt wird, um Sicherheit soweit irgend möglich herzustellen.
Dies geschieht zum Beispiel durch Harmonisierungsrechtsvorschriften, die festlegen, dass grundsätzlich sichere Maschinen am Markt bereitgestellt werden müssen. Weiterhin bieten Normen sowie technische Spezifikationen Lösungen zur sicherheitsgerechten Gestaltung. Und selbst bei Restrisiken, die nur durch individuelles Verhalten aufgefangen werden können, wird sicheres Verhalten eher durch Ge- und Verbote durch Gesetze und technische Regeln sichergestellt, also durch deutlich härtere verhaltenssteuernde Maßnahmen als Nudges. Hier ist zum Beispiel an die Pflicht des Anwenders zu denken, Arbeitsmittel und insbesondere Maschinen nur weisungsgemäß zu benutzen.
Allerdings existiert im Alltag trotz all dieser Maßnahmen noch ein Umsetzungsdefizit in der betrieblichen Praxis, nicht immer und überall wird tatsächlich auch gemäß dieser Ge- und Verbote gehandelt. Aus ersten Forschungsergebnissen haben wir Hinweise darauf, dass Nudges hier einen Beitrag leisten können, um die Umsetzung sicherer Verhaltensweisen zu verbessern. Das tatsächliche Potential, in welchen Bereichen genau ein solcher Effekt möglich und wie groß er ist, ist dabei noch nicht bekannt.
Nudging-Maßnahmen dürfen nicht manipulieren
Haufe Online Redaktion: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit Nudging-Maßnahmen auch im Bereich der Arbeitssicherheit ausprobiert werden können?
Matthias Hartwig: Wie oben beschrieben, eigenen sich Nudges nicht als alleinige Maßnahme zur Sicherstellung von Arbeitssicherheit. Das heißt eine Grundvoraussetzung ist, dass Nudges bestehende Maßnahmen nicht ersetzen, sondern lediglich als Ergänzung getestet werden.
In welchem Maße sich Nudging als solche ergänzende Methode durchsetzen wird, wird nicht zuletzt auch von einer transparenten, partizipativen und ethischen Gestaltung der Nudges abhängen: Nudging bewegt sich als verhaltensändernde Maßnahme immer dann nah am Bereich der Manipulation, wenn entweder die Nudgingmaßnahmen selbst oder aber die angestrebten Verhaltensweisen der Personen nicht transparent sind.
Nudges sollten daher nur wahre Informationen beinhalten und eindeutig interpretierbar sein. Außerdem muss das Ziel der Maßnahme transparent sein, damit die Betroffenen die Souveränität über das Verhalten weiter innehalten. Schließlich muss sichergestellt sein, dass das erklärte Ziel und der Nutzen den Eingriff in die persönliche Freiheit durch Nudges rechtfertigt. Im Fall der Sicherheit dürfte dieser Punkt prinzipiell gegeben sein, da wir als Gesellschaft ja bereits härtere Eingriffe in die persönliche Freiheit durch Ge- und Verbote zum Wohle der persönlichen Sicherheit akzeptieren. Dennoch muss dieser Punkt natürlich im jeweiligen Einzelfall betrachtet werden.
Persuasive Technologien bieten große Entwicklungspotenziale
Haufe Online Redaktion: Welche Entwicklungen gibt es aktuell bezüglich den Persuasiven Technologien für den Bereich der betrieblichen Gesundheit und Sicherheit?
Matthias Hartwig: Persuasive Technologie wird nach dem amerikanischen Verhaltensforscher Brian J. Fogg definiert als ein Computersystem, das intentional so gestaltet ist, dass es Einstellungen und/oder Verhalten von Benutzern ändert bzw. beeinflusst, ohne Zwang oder Täuschung auszuüben. Es umfasst also den Teil des Nudgings, der Computertechnologie als Medium nutzt und Persuasive Technologien können dementsprechend als Werkzeuge für Nudging verstanden werden.
Persuasive Technologien fanden bisher in vielen unterschiedlichen Disziplinen Anwendung, darunter in den Bereichen Gesundheitsvorsorge, ökologisch nachhaltiger Konsum sowie Lehren und Lernen. Aber auch die Themenbereiche Mobilität, Verkehr und nachhaltige Energie stehen im Fokus.
Aktuell rücken aber besonders die gesundheitsförderlichen Anwendungen persuasiver Technologien in den Vordergrund. Ein Überblick über aktuelle Forschungen zeigt, dass persuasive Technologien besonders im Feld der Gesundheitsförderung ein großes Potenzial besitzen. So wurden in über 90 Prozent der Studien, in denen persuasive Technologien im Bereich Gesundheit und Wohlbefinden angewendet wurden, eine positive Verhaltensänderung beobachtet. In diesem Bereich finden sich besonders viele Anzeichen für eine hohe Wirksamkeit.
Dieser grundsätzliche Befund lässt sich auch auf die Gesundheit am Arbeitsplatz anwenden. In vielen aktuellen Studien wird der Einsatz von persuasiven Technologien im Arbeitsschutz diskutiert, um gesundes und sicheres Verhalten der Beschäftigten zu fördern und zu erhalten. Hier gibt es aktuell zahlreiche Ansätze, Verhalten durch entsprechende Nachrichten und Erinnerungen zu beeinflussen.
Das können beispielsweise regelmäßige Hinweise auf dem Smartphone sein, mehrmals am Tag das statische Sitzen während der Büroarbeit durch Bewegung aufzubrechen. In modernen Ansätzen solcher Assistenzfunktionen wird gezielt versucht, solche Bewegungen zu planen, um sie sinnvoll und wenig störend in den Arbeitsalltag zu integrieren. Ähnliche Strategien werden auch erprobt, um Stress zu managen und so die Gesundheit von Beschäftigten zu verbessern.
Konventionelle „Nudging-Strategien“ gibt es schon lange
Haufe Online Redaktion: Könnten Nudges auch ohne den Einsatz von Computern und Persuasiver Technologie zur Anwendung kommen? Gibt es dafür auch schon Praxisbeispiele?
Matthias Hartwig: Im Bereich Sicherheit bieten persuasive Technologien ein großes Entwicklungspotential, weil neue Technologien viele Schnittstellen für Nudges und persuasive Elemente bieten.
Gleichzeitig wird das Grundprinzip des Nudgings, also Verhalten durch die Gestaltung der Umgebung zu beeinflussen, schon bei einer Vielzahl von Arbeitsmitteln seit langer Zeit angewendet. Dazu zählt zum Beispiel ganz klassisch die bewusste Gestaltung von Hindernissen oder potentiellen Gefahrenquellen in Signalfarben wie Rot, Pink oder Gelb.
Dies folgt den Prinzipien des Nudgings, indem gezielt Aufmerksamkeit gelenkt wird, um Fehlhandlungen zu verhindern.Gerade beim Thema Sicherheit geht es oft weniger darum, Personen zu einer bestimmten Entscheidung zu bewegen, sondern eher darum, sie bei der Durchführung sicheren Verhaltens zu unterstützen. Hier besteht ein fließender Übergang zwischen guter Arbeitsmittelgestaltung im Sinne der klassischen Gebrauchstauglichkeit und Nudging.
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