Erst die Spitze des Eisbergs: Serielle Gebäudesanierung
Als zweitgrößter deutscher Wohnungskonzern sieht sich die LEG in der Verantwortung, die Dekarbonisierung des Gebäudebestandes aktiv voranzutreiben. Im Mönchengladbacher Stadtteil Hardt lässt die LEG seit August des vorigen Jahres 19 baugleiche Mehrfamilienhäuser aus den 1950er Jahren von den Baupartnern B&O, Ecoworks, Fischbach, Renowate und Saint-Gobain Pre-formance nach unterschiedlichen Ansätzen seriell sanieren.
Serielle Sanierungslösungen kombinieren digitalisierte Prozesse mit industrieller Vorfertigung und standardisierten Prozessen. Große Wohnungsbestände können auf diese Weise mit weniger Fachkräften in kürzerer Zeit saniert werden. Im Rahmen seiner Sommerreise besuchte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) das Modellquartier und informierte sich über die hier getesteten Sanierungsinnovationen.
Testparcours für die Sanierung 4.0
Rund 40 Millionen Euro investiert die LEG in die Erprobung und Optimierung serieller Sanierungslösungen. "Perspektivisch wollen wir es schaffen, Gebäude in drei Monaten von Energieeffizienzklasse H auf A zu sanieren, dabei 100 Prozent Dekarbonisierung sowie 90 Prozent Energieeinsparung zu erreichen und dies möglichst warmmietenneutral für die Mieterinnen und Mieter umzusetzen", beschreibt Chief Operating Officer (COO) Dr. Volker Wiegel die ehrgeizigen Ziele.
Das Grundprinzip der seriellen Sanierung sei bei allen fünf im Reallabor getesteten Ansätzen gleich: Die Gebäude würden mit industriell vorgefertigten Fassaden-, Dach- und Technikmodulen auf den klimaneutralen NetZero Standard gebracht. Der Fokus liege auf technischen Innovationen und Prozessoptimierungen, die das serielle Sanieren schneller, einfacher, mieterfreundlicher und kostengünstiger machen.
Gerüstfreie Montage durch innovative Verankerungslösung
Saint-Gobain ist im Sommer 2022 mit dem Tochterunternehmen Pre.formance in den seriellen Sanierungsmarkt eingestiegen. Technische Besonderheit in Mönchengladbach ist ein innovatives Befestigungssystem, das eine hängende Fassadenlösung ermöglicht.
Das zweiteilige System besteht aus Lastankern, die das Gewicht jedes Elements individuell abtragen, und Windankern, die Winddruck und -sog sicher auffangen. Jede Befestigerreihe trägt nur ein Element, sodass sich die Gewichte nicht aufaddieren. Somit eignet sich die Fassadeninnovation auch für höhere Gebäude. Da sich jedes Element dreidimensional austarieren lässt, können wie im Reallabor auch hochwertigere fugenlose Fassadenkonzepte realisiert werden. "Durch die neuartige Verankerungslösung konnten wir komplett auf eine Einrüstung des Gebäudes verzichten. Die Fassadenelemente werden einfach per Standkran und Hebebühne eingehängt. Das senkt die Baukosten und reduziert die Beeinträchtigung der Bewohnenden auf ein Minimum", erklärt pre.formance Geschäftsführerin Victoria Renz-Kiefel. Eine weitere technische Innovation im pre.formance Bauabschnitt ist die zentrale Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung, die bis dato in der Bestandssanierung als nicht machbar galt.
Dabei liegen die Vorteile im Vergleich zu dezentralen Lüftungssystemen auf der Hand: Es sind keine Wärmebrücken verursachenden Durchbrüche nötig, der Wartungsaufwand reduziert sich von vielen auf ein Gerät und die Geräuschbelastung ist deutlich geringer, weil mit niedrigerer Drehzahl gearbeitet werden kann.
Indach-Solarmodule mit ausgeklügelter Technik
In Mönchengladbach erprobt B&O ein neuartiges Solardach. Statt der bislang üblichen Photovoltaikanlage als Aufdach-Lösung hat B&O im Living Lab erstmals eine Indach-Variante verbaut. Die Photovoltaikmodule bilden quasi das Dach und ersetzen damit die klassische Dacheindeckung. "Neben dem ästhetischen Mehrwert überzeugt die Anlage mit toller Leistung und ausgeklügelter Technik. Modulare Mikrowechselrichter sorgen für eine einfache Installation und im Ernstfall für eine schnelle Reparatur. Zudem ist sie weiterhin BEG förderfähig, da sie einen integralen Bestandteil des Dachmoduls darstellt", skizziert Heinz Scheve, Geschäftsführer der Anfang 2023 gegründeten B&O Seriell GmbH, die Vorteile.
Die im Reallabor verbauten Fassadenmodule stammen aus dem neuen Werk in Frankfurtan der Oder, wo die B&O Gruppe 25 Millionen Euro in den Aufbau einer Fassadenfertigung 4.0 investiert. Die Fassadenelemente wurden inklusive Dämmung, Fenstern und Leerrohren für die Verkabelung der Gebäudetechnik millimetergenau vorgefertigt und im Zweitagesrhythmus per Lastkraftwagen auf die Baustelle transportiert. Die Produktionskapazitäten werden sukzessive erweitert, sodass pro Jahr rund 200 Mehrfamilienhäuser mit insgesamt 1.500 Wohnungen seriell saniert werden können. Durch schnellere Planung, weniger Schnittstellen und kürzere Abläufe sollen perspektivisch Kostensenkungen im zweistelligen Prozentbereich möglich sein.
Fassadenintegriertes TGA-Modul ersetzt Strangsanierung
Ecoworks hat 2019 das erste serielle Sanierungsprojekt auf dem deutschen Markt realisiert. Der Pilot in Hameln hat zahlreiche Akteure der Wohnungs- und Bauwirtschaft motiviert, eigene serielle Sanierungsprojekte zu starten. Mittlerweile hat das Berliner Startup seine Lösung in zahlreichen Folgeprojekten weiter optimiert und zählt zu den am schnellsten wachsenden Unternehmen der seriellen Sanierung. Für ihr Geschäftsmodell zur klimaneutralen Transformation großer Bestände wurde Ecoworks 2022 mit dem ZIA "PropTech of the Year Award" und dem DENEFF "Performance Award Wohnen" ausgezeichnet.
In Mönchengladbach ist das Unternehmen mit drei Lösungen beteiligt: "Aus unseren bislang umgesetzten Projekten wissen wir, dass sich die serielle Sanierung an unterschiedlichen Stellen optimieren lässt", betont CEO Emanuel Heisenberg. Im Reallabor kommt unter anderem ein neuartiges fassadenintegriertes TGA-Modul zum Einsatz, in dem sich die Heizungs- und Warmwasserleitungen für die Wohnungen befinden. Das macht eine aufwendige Strangsanierung, die mit einer hohen Belastung für die Mieter verbunden ist, unnötig.
Eine weitere Besonderheit ist das hybride Lüftungssystem, das die Vorteile elektrischer und mechanischer Lüftung miteinander kombiniert. Die Fassadenelemente von Ecoworks sind mit einer robusten und extrem witterungsbeständigen Verschalung aus Faserzement verkleidet. Neuartige Designelemente werten das Fassadenbild mit Lisenen auf und kaschieren das für vorgefertigte Module typische Fugenbild.
Technische Versorgung aus dem unterirdischen Betonkobus
Im mönchengladbacher Projekt verbaut Fischbach erstmals einen sogenannten Ground Cube. "Dabei handelt es sich um einen unterirdischen Betonkubus, in dem die gesamte Gebäudetechnik steckt – Heizungstechnik, Elektroanschluss, Trinkwasseranschluss, Telekommunikation und Internet. Die technische Versorgung der Wohnungen erfolgt über einen Backpacker-Strang in der neuen Fassade. Auf diese Weise lässt sich die Gebäudetechnik minimalinvasiv und damit mieterfreundlich erneuern", erläutert Fred ten Bosch, Leiter Marketing und Vertrieb.
In Mönchengladbach optimiert Fischbach außerdem ein Dämmverfahren, das im Energiesprong-Projekt der Vonovia in der Bochumer Katharinastraße erstmalig in der seriellen Sanierung erprobt wurde. Bei der Dämmung von Bestandsgebäuden stoßen herkömmliche Lösungen aufgrund unebener Flächen und verwinkelter Grundrisse oft an ihre Grenzen. Hier empfiehlt sich eine Einblasdämmung. Dabei werden Holzfasern per Luftdruck in die zu dämmenden Bereiche gepumpt und Hohlräume unabhängig von ihrer Geometrie exakt ausgefüllt. Die Einblasdämmung ist eine schnelle, kostengünstige und durch die Verwendung nachwachsender Rohstoffe besonders nachhaltige Dämmvariante, die das serielle Sanieren weiter optimiert.
Steile Lernkurve und hohes Tempo
Als Joint Venture der LEG und des österreichischen Baukonzerns Rhomberg verfügt das im April 2022 gegründete Startup Renowate über umfassendes Know-how in der Wohnungs- und Bauwirtschaft. Ziel des Unternehmens ist es, das Sanierungstempo zu erhöhen und die energetische Modernisierung für alle Bestandshalter bezahlbar zu machen. Diesen Anspruch hat Renowate bereits bei einem Sanierungsprojekt in der Zeppelinstraße verwirklicht.
"Wir haben in kurzer Zeit eine steile Lernkurve hingelegt. Dauerte die Planung der ersten Fassadenelemente noch 40 Tage, waren es bei den weiteren nur noch vier. Mit diesem Renowate-Speed wollen wir auch die nächsten zwölf Projekte bis Ende des Jahres fertigstellen", so Geschäftsführer Andreas Miltz. Für sein Konzept zur schnellen Wärmewende im Bestand wurde das Unternehmen vor Kurzem mit dem DW-Zukunftspreis der Immobilienwirtschaft 2023 ausgezeichnet.
Im Reallabor saniert das Joint Venture aktuell drei Mehrfamilienhäuser mit 21 Wohneinheiten. Pro Gebäude sind zwei bis drei Wochen für die Montage der vorgefertigten Fassadenmodule vorgesehen. Im Spätsommer sollen die Gebäude schlüsselfertig an die LEG übergeben werden.
Maximale Mieterakzeptanz durch minimalen Eingriff
Mieterin Elke Baur und Mieter Günter Steinhoff fühlen sich maximal informiert und minimal beeinträchtigt. Etwas Staub und Krach gebe es hin und wieder schon, aber dies hielte sich im Vergleich zu einer konventionellen Sanierung im Rahmen. "Auch wenn noch nicht alles fertig ist, hat die neue Dämmung schon jetzt einen positiven Effekt. An heißen Hochsommertagen heizt sich das Gebäude nicht mehr so stark auf wie früher", berichtet Günter Steinhoff.
Dass sie nach der Sanierung unterm Strich nicht mehr bezahlen werden als vorher, klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Nach Aussage der LEG wird die Durchschnittsmiete von 6,43 Euro pro Quadratmeter durch die Modernisierungsumlage um zwei Euro steigen, dafür werden die Nebenkosten durch die hohen Energieeinsparungen um die gleiche Summe sinken. "Warten wir’s mal ab", meint Elke Baur, "aber wenn es wirklich so kommen sollte, freuen wir uns natürlich."
Förderung gibt serieller Sanierung Rückenwind
"Die fünf seriellen Sanierungskonzepte im Living Lab sind nur die Spitze des Eisbergs. Das Innovationspotenzial serieller Sanierungslösungen ist längst noch nicht ausgeschöpft. In den nächsten Jahren werden zahlreiche weitere zukunftsweisende Ansätze hinzukommen", ist sich Uwe Bigalke, Teamleiter Analysen und Gebäudekonzepte der Deutschen Energie-Agentur (Dena), sicher.
Im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat die dena die Marktentwicklung für serielle Sanierungslösungen in Deutschland initiiert. Seit Einführung des 15-prozentigen Bonus für serielles Sanieren im Rahmen der Bundesförderung effiziente Gebäude (BEG) ist die Nachfrage nach dem innovativen Sanierungskonzept deutlich gestiegen. Mit Tilgungszuschüssen von bis zu 45 Prozent und zinsgünstigen KfW-Krediten, die zwei bis drei Prozent unter den marktüblichen Konditionen liegen, ist das serielle Sanieren bei deutlich schnellerer Umsetzung in etwa auf dem Kostenniveau konventioneller energetischer Modernisierungen. Nach erfolgreicher Pilotphase auf europäischer Ebene nimmt das serielle Sanieren nun Fahrt auf: 19 Pilotprojekte wurden fertiggestellt, 15 sind im Bau, 90 weitere serielle Sanierungsvorhaben mit zirka 11.000 Wohnungen befinden sich in unterschiedlichen Planungs- und Vorbereitungsphasen.
Schlüsseltechnologie für die Wärmewende
"Ich nehme aus dem Besuch drei Dinge mit: Erstens, dass das serielle Sanieren eine Schlüsseltechnologie ist, die enormes Tempo in die Bestandssanierung bringt. Zweitens, dass die Kosten sinken, wenn es zu einem Massenmarkt wird. Und drittens, dass sich hier ein neuer wachstumsstarker Wirtschaftszweig entwickelt", so Habeck. Der Minister versprach eine Weiterführung der Förderung für die nächsten drei Jahre. Zudem wolle er mit Bundesbauministerin Klara Geywitz über Vereinfachungen in der Bauordnung sprechen. Die Stadt Mönchengladbach verzichtete auf eine Baugenehmigung für die mehr als 30 Zentimeter dicken Fassadenelemente. Oberbürgermeister Felix Heinrichs hatte sich dazu mit seinen Kollegen auf dem kurzen Dienstweg verständigt. Eine pragmatische Lösung, die Habeck zur Nachahmung empfiehlt.
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