"Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Geschmack der Katastrophe nehmen." Dass Max Frisch goldrichtig lag mit diesen Sätzen, erlebten meine Teams und ich in der Coronakrise.
Wo Schatten ist, da ist auch Licht
Nach dem ersten Schock über den Lockdown, nach kleineren Organisationsproblemen, nach einer Phase der Gewöhnung an das Arbeiten von zu Hause aus, konnten wir uns alle ganz gut mit der neuen Corona-Welt arrangieren. Auch an die Tatsache, dass bis auf Weiteres jede Kommunikation ausschließlich virtuell stattfinden würde, gewöhnten wir uns schnell. Ja, viel mehr als das: Bei meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und auch bei den Führungskräften konnte ich gar Begeisterung für die neue Art zu arbeiten feststellen.
Die einen genossen die Freiheit und Flexibilität des ortsunabhängigen Arbeitens, insbesondere von zu Hause aus. Die anderen freuten sich über die neue Besprechungskultur, die das Social Distancing erzwang. Die Videocalls brachten mehr Effizienz. Zeit- und kostenintensive An- und Abreisen oder gar Hotelübernachtungen entfielen. Plötzlich war das da, was sich jeder oftmals gewünscht hatte: Mehr Fokus auf das wirklich Relevante und weniger Blabla zu Nebensächlichem. Klar, denn Kommunikation via Bildschirm ist anstrengend, weshalb niemand sie unnötig in die Länge ziehen will.
Eineinhalb Jahre nach Beginn der Krise: Zeit für ein Fazit
Doch wie sieht es heute, eineinhalb Jahre nach Beginn der Krise aus? Die erste Euphorie über die Errungenschaften ist verflogen. Wir alle sind zwar jetzt Online-Meeting-Profis, wissen aber auch, dass Remote-Treffen als Monokultur auf Dauer nicht das Gelbe vom Ei sind. Auf lange Sicht schwindet die vermeintlich schnell gewonnene Effizienz. Denn Konfliktpotenzial bleibt unentdeckt und damit auch unbearbeitet.
Der Bildschirm lässt die Körpersprache der anderen und damit erste Warnzeichen, zum Beispiel ein nervöses Fußtippen kaum wahrnehmen. Ebenso gehen wichtige Informationen schon mal verloren oder erreichen nicht alle Adressaten, sei es, weil zu viel verhandelt wird und unsere Aufmerksamkeit und Konzentration nachlassen, sei es, weil Chat, Dokumentation und Gespräch parallel laufen – wir sind eben doch nicht so gute Multitasker, wie wir gerne glauben. Zudem fällt es sehr schwer, online gemeinsam kreativ zu sein.
Ist das hochgelobte Homeoffice wirklich so toll?
Auch die Zusammenarbeit auf Distanz fordert allmählich ihren Tribut in den Teams. Es mangelt vor allem an informeller Kommunikation. Man tauscht sich zwar mal kurz per Telefon auch über Privates aus. Das kann jedoch den Plausch in den Teeküchen nicht ersetzen. Meine Mitarbeiter sehnen sich mittlerweile danach, wieder gemeinsam ins Büro zu kommen. Einigen von ihnen hat die Arbeit im stillen Kämmerlein nicht gutgetan. Sie empfinden sie als besonders stressig. Einige empfinden Druck, weil sie sich nicht unmittelbar mit Kolleginnen und Kollegen abstimmen und absichern können. Anderen, vor allem Singles, macht die soziale Isolation zu schaffen.
Nicht zu vergessen die Onboardees, die während der Corona-Krise neu ins Unternehmen kamen: Sich von der Ferne einzuarbeiten, seinen Platz im Team zu finden und auch noch die unbekannten Kollegen richtig einzuschätzen, ist bereits für erfahrene Fachkräfte eine Herausforderung. Ungleich schwerer ist es für diejenigen, die frisch von der Uni oder Ausbildung kommen oder eine Ausbildung beginnen.
Allerdings wollen auch sie, wie übrigens fast alle anderen Mitarbeitenden, das Arbeiten im eigenen Zuhause künftig nicht gänzlich missen. Immer häufiger höre ich Sätze wie diesen: "Wie schön wäre es, je nach Bedarf hybrid zu arbeiten!"
Meine Lessons Learned als Führungskraft
Und die Führungskräfte? Auch für uns war die Corona-Krise eine Phase des intensiven Lernens – eine produktive Zeit, aus der ich viel für die Zukunft mitnehme.
Erkenntnis 1: So viel direkte Kommunikation wie möglich
Zusammenarbeit aus der Distanz funktioniert langfristig nur mit größtmöglicher Transparenz. Heute setzen wir deshalb auf All-Hands-Meetings, in denen wir alle online zusammenkommen, um uns gegenseitig auf den neuesten Stand zu Zielen, Strategien und Herausforderungen zu bringen. Das sichert nicht nur jedem und jeder den gleichen Informationsstand, sondern vermittelt auch den tieferen Sinn, den Mitarbeiter in ihrem Tun sehen wollen.
Erkenntnis 2: Die Bedürfnisse des Einzelnen in den Fokus nehmen
Führen nach dem "Schema F" ist keine gute Idee. Individuelles Eingehen auf jeden Mitarbeitenden ist gefragt. Die dafür nötigen Eins-zu-eins-Gespräche sind aufwändig, zahlen sich aber aus. Denn Menschen, die sich gesehen und wertgeschätzt fühlen, sind wesentlich motivierter und gehen gerne auch mal die "Extrameile".
Erkenntnis 3: Mehr Selbstorganisation und Eigenverantwortung
Die einen brauchen viel Austausch mit anderen, die anderen arbeiten gerne autark. Wir stellen unseren Teams heute frei, ob sie ihre Meetings online oder offline organisieren und wie oft sie sich in welcher Besetzung treffen. Diese Selbstorganisation erfordert sehr viel Feingefühl und auch Disziplin. Dennoch lohnt es sich. Es motiviert nicht nur, mit dem passenden Mindset funktioniert es sogar prächtig.
Erkenntnis 4: Individueller Integrationsplan für Onboardees
Damit neue Mitarbeiter gut im Unternehmen ankommen, ist ein Willkommensmanagement erforderlich, das nicht nur informiert, sondern auch möglichst typbezogen integriert. Introvertiertere Menschen brauchen zum Beispiel mehr Starthilfe als diejenigen, die offen auf andere zugehen.
Erkenntnis 5: Informelle Offline-Treffen sind unverzichtbar
Sobald größere Events wieder ohne Probleme stattfinden können, werden wir an unsere alte Tradition der unternehmensinternen Feste anknüpfen. Wir alle vermissen diese Veranstaltungen. Sie sind nicht nur eine willkommene Abwechslung zum Alltag, sondern immens wichtig, um Unternehmenszugehörigkeit zu leben und zu intensivieren. Denn eines wurde ganz klar in den vergangenen eineinhalb Jahren: Menschen brauchen Verbundenheit, auch im Berufsleben.