Warum sind Deutschlands Ämter so wenig smart?

"Einen Antrag auf Erteilung eines Antragformulars ..." besang Reinhard Mey 1977. Und könnte das Lied heute direkt noch einmal schreiben. Denn noch immer drohen Bürgerinnen und Bürger im Antragsdschungel verloren zu gehen. Das muss nicht sein, meint Gastautor Stefan Döring. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz könnten die Verwaltung wirklich smart machen – und bürgerfreundlicher. 

Deutschland – Land der Bürokratie

Den Verwaltungsirrsinn in unserem Land kann man ganz gut anhand der Antragsflut nach einer Geburt erkennen. Wenige Tage danach muss man die Geburtsurkunde beantragen. In anderen Ländern geht das automatisch und die Urkunde liegt dann digital für alle anderen Behörden vor. Bei uns ist das unüblich, daher dauert das dann schon mal 14 Tage. Das ist blöd, wenn die Urkunde Basis für weitere Leistungen und Anträge ist. Für den Antrag auf Kindergeld braucht man im Übrigen die Steuer-ID des Babys. Wann diese erstellt wird, ist auch eher nebulös.

Maximal kompliziert

Haben Sie sich schon mal den Antrag auf Elterngeld angesehen? Ich frage mich angesichts dieses Monsters, ob irgendjemand auch nur ansatzweise nachvollziehen kann, warum er wieviel Geld bekommt. Aber seit Corona geht es auch leidlich digital. Nach 20 Mal „Weiter“ klicken habe ich allerdings innerlich aufgegeben. Vielleicht auch besser so, wenn selbst die Beratungsstelle des Landratsamtes mit meinen Fragen vollkommen überfordert ist.

Bei solch maximal komplexen Verfahren verwundert es kaum noch jemanden, dass man Mutterschaftsgeld nach Wochen, aber Elterngeld nach Monaten berechnet. Alles andere wäre ja auch nun wirklich zu einfach. Dazu kommen noch Kitaanmeldung ab Geburt, um auch nur ansatzweise Chancen auf einen Platz zu bekommen, sowie Krankenkassenanmeldung und die zahlreichen Nachweise beim Arbeitgeber. Den Teilzeitantrag stellt man natürlich auch getrennt zum Elternzeitantrag, obwohl für die Menschen beides direkt zusammenhängt. Ich habe gezählt: 17 Anträge und Anzeigen habe ich ausgefüllt, acht Behörden und Organisationen waren beteiligt, nur drei Anträge erfolgten digital. „Smart“ ist auf jeden Fall anders.

Smart Government

Dabei ist heute irgendwie alles smart: Smart Watches, Smart Home, Smartphone. Und jetzt auch noch die Smart City. Eines haben alle gleich: Eine Künstliche Intelligenz analysiert Daten, die durch Sensoren erfasst wurden.

Apropos Daten. Die hat die Verwaltung ja nun wirklich genug. Das Problem ist, dass diese nicht von einer Behörde zur anderen fließen. Auch ist Künstliche Intelligenz in den Amtstuben eher ein Schimpfwort, als dass man sich mit deren Möglichkeiten auseinandersetzt. Damit Deutschlands Verwaltung nicht den Anschluss an die smarte Welt verliert, braucht es ein radikales Umdenken.

Once Only als Basis für Kundenorientierung

Meine oben geschilderte Odyssee in den Tiefen der Bürokratie wirft die Frage auf: Warum wurde meine Geburtsurkunde nicht automatisch an die Zuständigen für Elterngeld und Kindergeld weitergeleitet? Warum hat man meine zahllosen Eingaben im Antrag auf Elterngeld nicht gleich genutzt, um den Arbeitgeber zu informieren und zeitgleich Elternzeit sowie Kindergeld zu beantragen? Quasi mit einem Antrag automatisch alle berechtigten Leistungen abgeprüft? Auf diese Fragen gibt es drei Antworten: Zuständigkeit, Antragsverwaltung und Datenschutz.

Zuständigkeiten sind die Existenzgrundlage für viele Behörden. Aber dennoch könnten die Informationen doch fließen! Mir fehlt zum Beispiel jedes Verständnis dafür, dass die Eingaben in den Elterngeldrechner des Bundes nur von einigen Ländern gleich in den Antrag übernommen werden. Das zeigt mir, dass im Kern keine Gesetze oder die Technik dem entgegenstehen, sondern der Wille. Darum steckt das Prinzip Once Only, das auch Basis des Bürgerkontos ist, seit Jahrzehnten noch in den Kinderschuhen.

Voraussetzung für Smart Government ist Kundenorientierung

Die Antragsverwaltung ist Ausdruck eines Bürokratieverständnisses, das Kundenorientierung nicht kennt. Viele Gesetze sehen daher einen schriftlichen, unterschriebenen Antrag vor. Selbst wenn das Amt gerne digital arbeiten würde – der Gesetzestext verbietet es oft. Smart Government setzt daher flächendeckend Gesetzesänderungen voraus.

Dennoch ist es auch hier Einstellungssache. Du weißt nicht, dass du Anspruch auf eine Leistung hast? Pech gehabt – wir verraten es dir nicht! Du weißt nicht, wie der gesetzlich, juristisch einwandfreie Fachbegriff ist? Aber wir wissen es und haben alle Dokumente so benannt. Findest du sie nicht, ist das nicht unser Problem. Dieses Verhalten findet sich auf den meisten Behördenwebseiten wieder.

Ich fordere daher den radikalen Wandel von der Antragsverwaltung zum proaktiven Handeln der Behörden im Sinne der Kunden: Die Behörde wartet nicht auf einen Antrag, sondern weist von sich aus auf Leistungen hin. Die Kommune weiß zum Beispiel, wann Personalausweis oder Reisepass ablaufen. Warum die Bürger nicht darauf hinweisen und gleich den passenden Antrag mitschicken?

Datenschutz dank Einwilligung

Oft wird der Datenschutz als Hürde genannt, um weiterhin nur zu reagieren, statt zu agieren. So dürfen Angaben beispielsweise nicht über Behörden- und manchmal auch Sachgebietsgrenzen der gleichen Verwaltung ausgetauscht werden.

Aber natürlich geht das! Meine Erfahrung in Bürgerbeteiligungsprozessen zur Behörde der Zukunft ist, dass viele Bürger ihr Einverständnis dafür gerne geben – wenn man sie fragen würde. Aber es geht auch ganz ohne Datenweitergabe. Informieren sich Bürger über die Kita-Anmeldung im Web, könnte man sie aktiv auch auf passende Beratungsleitungen, Spielplätze vor Ort oder die Ferienzeit informieren.

Künstliche Intelligenz kann helfen

Wissen Sie, was richtig nervt? Man denkt, dass man den richtigen Antrag gefunden hat, gibt sich stundenlang Mühe, alle Felder vollständig auszufüllen und kriegt dann doch ein Schreiben (natürlich per Post), dass hier und da Angaben fehlen. Warum den Antrag nicht per künstlicher Intelligenz vorprüfen lassen? Es ist schon etwas komplexer, aber machbar. Und smart. Denn auch die Behörde spart massiv Arbeit.

Ein kleiner Schritt in diese Richtung sind digitale Formulare. Sie lassen nur vollständig ausgefüllte Anfragen zu und sparen allen Beteiligten viel Zeit durch die wegfallenden Nachfragen.

Wer soll sich all diese Passwörter merken?

Aktuell muss man sich für digitale Anträge immer wieder neu registrieren. Dadurch hat man zig Passwörter, die man sich merken soll. Utopisch. Also entweder nimmt man immer das gleiche Kennwort, was angesichts der Wichtigkeit der persönlichen Daten riskant ist. Oder Browser, Google, Facebook und Co bieten die Speicherung der Passwörter an, was mir nicht weniger Sorgen macht.

Obwohl jahrzehntealt, ist die Diskussion über einheitliche, eindeutige Identifikation der Bürger im Internet in unserem Land immer noch nicht abgeschlossen: Der nPA ist gar keine so schlechte Idee, nur hat man zu wenig in das Marketing Richtung Bürger und Unternehmen investiert. Und weil niemand die elektronische Ausweisfunktion nutzt, hat man dann natürlich die PIN vergessen. Ob nun Steuer-ID, Elster-Zertifikat oder was Neues - wir brauchen jetzt eine Entscheidung, um voran zu kommen. Egal in welchem Bundeland man wohnt.

Das Rad nicht täglich neu erfinden

Beinah täglich liest man, dass eine Behörde eine Studie in Auftrag gibt. Muss das sei? Die wissenschaftliche Forschung ist meist bereits Jahrzehnte weiter. Warum nicht auch mal den Experten zuhören, als das Rad immer neu zu erfinden? Warum nicht mal bei einem Best Practice in Deutschland oder Europa adaptieren? Warum den digitalen Service nicht gemeinsam entwickeln oder eine öffentliche Vergabe im Verbund stemmen?

Föderalismus ist dann keine gute Idee mehr, wenn jedes Bundesland und jede Kommune ihr eigenen Süppchen kocht. Smart ist, wer gerade bei Themen wie Mobilität, Nachhaltigkeit und Wirtschaft über die Gemeindegrenzen hinaus kooperiert. Gemeinsam ist man immer stärker! Das passiert immer noch viel zu selten und scheitert oft an zu großen Egos oder an Parteizugehörigkeiten. Verständnis haben die Bürger dafür nicht, zumal die Grenzen der Gebietskörperschaften für sie im Alltag eh verschwimmen.

Usability lässt zu wünschen übrig

Das Onlinezugangsgesetz lässt keinen Spielraum: Die Etablierung der digitalen Verwaltung ist verpflichtend. Bitter, dass es dafür erst ein Gesetz braucht.

Aber auch dann sind die Online-Services oft sperrig. Optisch eher an den Teletext der 90igern angelehnt, in unverständlichem Juristendeutsch formuliert, mit zu kleinen Feldern und fehlenden Link-Buttons. Das geht doch besser!

Auch Tutorialfilme helfen, Anträge richtig auszufüllen. Mehrsprachig und barrierefrei. Was es zum Thema Behördenwebseite ansonsten zu tun gibt, habe ich bereits ausführlich dargelegt.

Machen ist wie wollen, nur krasser

Schauen wir uns die europäischen Best Practices an, so bedarf es nicht nur eines radikalen Umdenkens, sondern auch einer grundsätzlichen Neuausrichtung inklusive Zentralisierung von Zuständigkeiten und Etablierung digitaler Prozesse. Dafür fehlendes Know-how lässt sich rekrutieren. Kooperationen lassen sich eingehen, Kundenorientierung schulen. Die Bürger sind jedenfalls schon lange bereit für ein Smartes Deutschland.

Schlagworte zum Thema:  Öffentliche Verwaltung, Digitalisierung