10 Jahre Mindestlohn: notwendig oder ökonomischer Unsinn?

Vor genau zehn Jahren wurde in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn eingeführt. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil bezeichnet ihn als "Erfolgsgeschichte". Andere sehen darin einen Verstoß gegen die Tarifautonomie. Eine Einordnung von Professor Dr. Gregor Thüsing.

Geschichte ist kein Kontinuum, sondern sie vollzieht sich in Schritten, von denen der eines mal mehr, der anderes mal weniger als Zäsur empfunden wird. Einen solchen wichtigen Schritt ist das deutsche Arbeitsrecht vor nunmehr fast genau zehn Jahren gegangen. Es schuf mit dem Mindestlohngesetz und seinen damaligen acht Euro pro Stunde einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland. Im europäischen Vergleich war das eher spät – die allermeisten Länder hatten bereits damals eine solche Grenzziehung nach unten, auch wenn deren Höhe deutlich differiert – von aktuell ca. 475 Euro monatlich in Bulgarien bis zu 3085,11 Euro pro Monat in Luxemburg bei 40 h die Woche.

Mindestlohn als Spielball der Politik

Aktuell stehen wir in Deutschland bei 12,82 Euro und im beginnenden Wahlkampf wird bereits die Erhöhung gefordert. Ein solcher höherer Mindestlohn ist vielleicht gar nicht so falsch, ja kann sogar zu begrüßen sein. Denn es geht um nichts weniger als den gerechten Lohn, der – so Papst Franziskus in der Enzyklika Evangelii Gaudium schreibt – erst "den Zugang zu den anderen Gütern [ermöglicht], die zum allgemeinen Gebrauch bestimmt sind". Wem dies bewusst ist, für den kann das Leitbild der Vergütung nicht nur der wirtschaftliche Wert der Arbeit oder der zu erzielende Marktpreis sein; vielmehr muss die Vergütung auch den Arbeitnehmer als Menschen beachten. Seine Würde verlangt nach einer angemessenen Entlohnung, auch – in letzter Konsequenz – wenn der Wert der Arbeit für den Arbeitgeber dies nicht rechtfertigt.

Hubertus Heil und der Heilige Vater scheinen also einer Meinung zu sein. Aber dennoch: Hier wurde der Mindestlohn zum Spielball der Politik. Präsident Biden hatte mit 15 Dollar minimum wage seinen Wahlkampf befeuert – und sie bislang nur für Adressaten öffentlicher Aufträge umgesetzt – und auch die Nouveau Parti démocratique ging vor zwei Jahren in den Wahlkampf mit der Forderung nach 15 Dollar – allerdings kanadische.

Zielkonflikt zwischen sozialer und ökonomischer Betrachtung

Wer bietet mehr? Man kann über den gerechten Lohn lange streiten. Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg erhält jeder Knecht am Ende des Tages einen Denar, und mag er auch nur eine Stunde gearbeitet haben. Ein Denar entsprach dem, was ein Tagelöhner brauchte, um zu leben. Es ist damit auch ein Gleichnis vom gerechten Lohn. Nicht was ich erwirtschafte, sondern was ich brauche, gibt mir der Herr des Weinbergs als Lohn der Arbeit.

Die Arbeit ist so zu entlohnen, "dass dem Arbeiter die Mittel zu Gebote stehen, um sein und der Seinigen materielles, soziales, kulturelles und spirituelles Dasein angemessen zu gestalten", heißt es im Kompendium der Soziallehre der katholischen Kirche – jedoch eben nur "gemäß der Funktion und Leistungsfähigkeit des Einzelnen, der Lage des Unternehmens und unter Rücksicht auf das Gemeinwohl". Working poors soll es nicht geben, doch die Produktivität eines Arbeitsverhältnisses kann nicht außen vorgelassen werden. Der alte Zielkonflikt zwischen dem, was sozial wünschenswert ist, und dem, was ökonomisch vertretbar ist, wird klar umrissen, doch bleibt er ohne Lösung.

Unabhängige Mindestlohnkommission

Der deutsche Gesetzgeber hatte diese Lösung bislang in die Hände einer unabhängigen Kommission gelegt. Das war gut so. So hat er die Höhe raus aus der Politik genommen und hineingelegt in ein Gremium, das sachnah und ausgewogen auch auf die Kompetenz und Teilnahme der Sozialpartner zählen kann. Diese Kommission bemüht sich, insbesondere nicht in Konkurrenz zu den Tarifpartnern zu treten und durch ihre Beschlüsse Tarifabschlüsse zu präjudizieren. Deshalb hat sie sich eine Geschäftsordnung gegeben, die dies sicherstellen soll. Das ist legitim, und wer daran Hand anlegt, der muss begründen, warum die Festlegung nach Wählergunst besser als nach Sachverstand ist. Bei der Erhöhung auf 12 Euro im Jahr 2022 ist man einen anderen Weg gegangen und nicht nur die Arbeitgeberseite empfindet das heute noch als Sündenfall.

EU überschreitet ihre Kompetenz

Die Zukunft des Mindestlohns bleibt also immer auch eine politische. So gibt es jetzt – anders als vor zehn Jahren – auch eine europäische Mindestlohnrichtlinie, und auf die berief sich Hubertus Heil in der Begründung seiner Forderung, den Mindestlohn auf 15 Euro zu erhöhen. Dass es eine solche Richtlinie gibt, wundert schon ein wenig, aber jedenfalls für eine Forderung nach einer bestimmten Entgelthöhe fehlt Europa klar die Kompetenz. Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist zwar eine Kompetenz für den Bereich der "Arbeitsbedingungen" begründet, da heißt es aber ebenso klar: "Dieser Artikel gilt nicht für das Arbeitsentgelt."

Die Regelung war schon enthalten im Protokoll über die Sozialpolitik von 1992 und war die Frucht der Überlegung: Beim Mindestlohn sind die nationalen Traditionen so verschieden, dass wir eine einheitliche europäische Regelung gar nicht erst anstreben. Das hat – zumindest bislang – auch der EuGH schon so gesehen. In einer Entscheidung in der Rechtssache Impact von 2008 stellte er uneingeschränkt fest: Es ist "als beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts angemessen erachtet worden, die Bestimmung des Lohn- und Gehaltsniveaus von einer Harmonisierung […] auszunehmen". Das sollte man nicht kleinreden. Man geht hier, soweit es technisch geht, aber eben weiter als es rechtlich geht.

Mindestlohn: Klare Perspektive notwendig

Der Mindestlohn bleibt also auch in Zukunft vor allem national bestimmt. Und er bleibt wichtig. Als das Gesetz im Bundestag diskutiert wurde, war ich als Sachverständiger geladen. Damals schrieb ich: "Nicht Stückwerk im Einzelfall, sondern tragfähige Fundamente einer gerechten Fortentwicklung des Arbeitsrechts sind gefragt. Für einen solchen Weg müssten jedoch zunächst die Ziele, die man verfolgt, klarer herausgearbeitet werden: Soll der Mindestlohn die Existenz des Arbeitnehmers sichern oder die Ausbeutung geringqualifizierter und daher verhandlungsschwacher Arbeitnehmer verhindern? Mit anderen Worten: Soll er sich an dem orientieren, was der Arbeitnehmer zum Leben braucht, oder an der Wertschöpfung, die aus seinem Arbeitsverhältnis unter gewöhnlichen Umständen zu erwarten ist?" Diese Frage ist auch künftig die, die beantwortet werden muss, will man dem Gesetz eine klare Perspektive geben. Es bleibt spannend.


Das könnte Sie auch interessieren:

Mindestlohn steigt zum 1. Januar 2025 auf 12,82 Euro

Mindestlohn für Azubis erhöht sich 2025

Deutscher Ethikrat: "Ethik kann helfen, die Arbeitskultur in Unternehmen zu stärken"



Schlagworte zum Thema:  Mindestlohn