BAG-Urteil zur Zeiterfassung sorgt für Missverständnisse

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Zeiterfassung hat eine hitzige Diskussion ausgelöst, die voller Missverständnisse ist. Eine pragmatische Lösung wird dadurch erschwert, meint Reiner Straub, Herausgeber des Personalmagazins. Ein Kommentar.

Arbeitgeber und Betriebsrat stritten in einem Verfahren darüber, ob dem Betriebsrat ein Initiativrecht bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung zusteht. Das BAG verneinte in seinem Urteil ein solches Recht, stellte jedoch zugleich fest, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen. Dieser Grundsatzentscheid führte in der Folge zu einer Diskussion voller Irrtümer.

Irrtum 1: Arbeitszeiterfassung ist "typisch deutsch"

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) veröffentlichte am 13. September 2022 eine kurz gehaltene Pressemitteilung, deren erster Satz eine Lawine der Entrüstung auslöste. Dort heißt es: "Der Arbeitgeber ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann." Aus diesem einen Satz machten die Medien Schlagzeilen wie "Zurück zur Stechuhr", "Das Ende der Vertrauensarbeitszeit" oder "Zurück ins letzte Jahrhundert". Der Unternehmer Carsten Maschmeyer beispielsweise formulierte sarkastisch: "Das Urteil zur Arbeitszeiterfassung ist die Rückkehr der völlig veralteten Stechuhr aus dem vorletzten Jahrhundert. Ich wäre nicht überrascht, wenn als Nächstes dann auch wieder eine Glocke zur Mittagszeit läutet."

Das BAG schafft mit seiner Rechtsprechung aber keinen deutschen Sonderweg, denn: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat schon 2019 allen Mitgliedsstaaten vorgeschrieben, Regelungen zur Dokumentation der Arbeitszeit zu schaffen. Es handelt sich um eine europäische Vorgabe, die übrigens in der Schweiz, die stolz auf ihre liberale Wirtschaftsordnung ist, längst praktiziert wird. Alle Mitarbeitenden, die weniger als 120.000 Schweizer Franken im Jahr verdienen, müssen ihre Arbeitszeit erfassen.

Irrtum 2: Rückfall ins vorherige Jahrhundert

Auch das Bild vom Rückfall ins vorherige Jahrhundert führt völlig in die Irre. Während damals Fließbandarbeit und der Achtstundentag dominierten, gibt es heute eine Vielzahl an Arbeitszeit- und Teilzeitmodellen, die zumindest eine individuelle Zeiterfassung erfordern. Für geringfügig Beschäftigte und etliche Wirtschaftsbranchen (unter anderem für das Baugewerbe, das Gaststättengewerbe, das Personenbeförderungsgewerbe, das Speditionsgewerbe oder die Fleischwirtschaft) schreibt § 17 Abs. 1 des Mindestlohngesetzes bereits seit 2014 eine Zeiterfassung vor (durch Verordnung des Finanzministeriums übrigens wie in der Schweiz nur bis zu einer gewissen Verdienstobergrenze), ohne dass bekannt geworden wäre, dass Unternehmen dieser Branchen am bürokratischem Aufwand kollabiert wären. Auch im Zuge der zunehmenden Projektarbeit werden Zeiten erfasst, die einzelnen Auftragsgebern zugeschrieben werden. Die Erfassung von Zeiten gehört zur modernen Arbeitsorganisation.

Irrtum 3: Das Ende der Vertrauensarbeitszeit

Während in den Fabrikhallen oder im Handel die elektronische Erfassung der Arbeitszeiten weiter zum Alltag der Beschäftigten zählt, wird in vielen Büros und insbesondere in der Wissensarbeit Vertrauensarbeitszeit praktiziert. Kern des Modells ist es, dass der Arbeitgeber den Mitarbeitenden nicht mehr die Arbeitszeiten vorschreiben will, sondern das Arbeitsergebnis in den Vordergrund stellt. Wann und wo die Arbeitsleistung erbracht wird, entscheiden die Mitarbeitenden in Absprache mit dem Team.

An diesem inhaltlichen Kern der Vertrauensarbeitszeit ändert das BAG-Urteil nichts. Dass Beschäftigte, auch im Homeoffice, ihre arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitszeiten individuell passend gestalten können, bleibt ihnen – innerhalb gewisser tarifvertraglicher oder gesetzlicher Leitlinien – völlig unbenommen. Es kommt nur eine Dokumentationspflicht hinzu.

Die gesetzlichen Regelungen zu Ruhepausen, Ruhezeiten, täglicher Höchstarbeitszeit und zum Verbot von Arbeit an Sonn- und Feiertagen gelten übrigens auch heute schon. Dass sich viele nicht daran halten, wurde - obgleich der Arbeitgeber hier auch eine Fürsorgepflicht für seine Beschäftigten hat - weithin geduldet. An diesen schon immer einzuhaltenden Arbeitnehmerschutzbestimmungen des Arbeitszeitgesetzes ändert sich durch das BAG-Urteil nichts.

Irrtum 4: Es gibt keinen Handlungsbedarf

In manchen Betrieben werden von den Beschäftigten Überstunden erwartet, die nicht bezahlt werden. Das betrifft überwiegend schlechter bezahlte Jobs. Wo solche Missbrauchsfälle bekannt werden – zuletzt etwa in der Fleischindustrie -, werden die Verstöße geahndet. Die Öffentlichkeit mobilisierte den Gesetzgeber, der aktiv geworden ist.

Doch auch die Flexibilisierung der Büroarbeit bringt Gefahren mit sich, die unter dem Stichwort "Entgrenzung der Arbeit" diskutiert werden. Burnouts sind keine Seltenheit mehr. Um den Beschäftigten Ruhezeiten zu verschaffen, haben manche Unternehmen ihre Mailserver am Wochenende abgeschaltet. Der Versuch misslang. Viele Firmen haben Betriebsvereinbarungen zum Thema Nicht-Erreichbarkeit vereinbart, in den Pandemiejahren etablierten sich Empfehlungen, Ruhepausen auch im Homeoffice einzuhalten. Das alles zeigt: Das Thema "Gestaltung der Arbeitszeit" kann nicht allein auf die Beschäftigten übertragen werden. Arbeitgeber, Betriebsräte und Gesellschaft tragen dafür ebenfalls Verantwortung. Der Bundesarbeitsminister, der spätestens seit der EuGH-Entscheidung zum Handeln aufgefordert ist, wurde bislang seiner Verantwortung nicht gerecht.

Das größte Hindernis der Zeiterfassung: Die Macht der Gewohnheit

In vielen Betrieben gibt es bereits elektronische Zeiterfassungssysteme, mit denen die Arbeitszeit dokumentiert werden kann. Die Dokumentation erfolgt vielfach auf Vertrauensbasis, Kontrollen durch Vorgesetzte sind bei Deskless Workern durchaus verbreitet, bei Büro- oder IT-Jobs die Ausnahme. An der betrieblichen Ausgestaltung der Dokumentationspflicht wird sich entscheiden, ob das Thema für die Betriebe viel oder wenig Aufwand mit sich bringt. Dass der Gesetzgeber hier minutiöse Vorgaben machen wird, wie die Erfassung auszusehen hat, ist nicht zu erwarten. Die gesetzliche Ausgestaltung wird (und muss) die Vorgaben des EuGH aufgreifen. Demnach muss die Erfassung objektiv und verlässlich und auch für die Arbeitnehmenden einsehbar sein. Das bieten eigentlich alle marktüblichen Systeme. Offen ist allenfalls noch, ob es eine Verdienstgrenze geben wird, ab der eine Erfassung nicht mehr erforderlich ist, oder ob pauschal "leitende Angestellte" ausgenommen sein werden.

Für alle Verantwortlichen in den Betrieben ist wichtig, Vertrauensarbeitszeit mit Zeiterfassung in Einklang zu bringen. Alle Mitarbeitenden mit Vertrauensarbeitszeit werden dafür motiviert werden müssen, ihre Arbeitszeiten zu dokumentieren und gleichzeitig das in den letzten Jahren entwickelte Arbeitsverständnis (Ergebnis statt Zeit) zu behalten. Das wird der größte Kraftakt im Zuge der Umstellung sein. Die Personalverantwortliche einer Schweizer IT-Firma erzählte uns, dass es zwei Jahre gedauert hat, bis sie auch die letzten Vertrauensarbeitszeitler dazu gebracht hatte, ihre Arbeitszeiten zu dokumentieren. Nichts ist schwieriger, als Gewohnheiten zu ändern.


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