Karenztage bringen mehr Probleme als Nutzen


Kolumne: Karenztag will gut überlegt sein

Karenztage sollen das Problem zu hoher Krankenstände lösen und den Arbeitgebern eine Kostenentlastung verschaffen. Unser Kolumnist Alexander R. Zumkeller misstraut den angeblichen Einsparpotenzialen und glaubt, dass bei der praktischen Umsetzung der Teufel wie so oft im Detail steckt.

Da ist sie wieder, die Sau, die durchs Dorf getrieben wird – der Karenztag. Der Chef einer großen deutschen Versicherung fordert den Karenztag – der erste Tag der Arbeitsunfähigkeit möge unbezahlt bleiben. Andere stimmen da direkt mit ein - der Chef eines großen deutschen Autobauers - mit der Begründung: "Der hohe Krankenstand ist ein Problem für die Unternehmen".

Richtig. Der hohe Krankenstand ist ein Problem. Vor allem die daraus resultierenden Kosten. Aber auch das Fehlen der arbeitsunfähigen Beschäftigten im Betrieb! Doch es ist zu kurz gedacht, nur über den ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit zu sprechen.

Karenztag: Das Einsparvolumen

Die Angaben zum einsparbaren Volumen sind etwas verstörend. Wenn bei durchschnittlich (laut Statistischem Bundesamt) gut 15 Krankheitstagen je Beschäftigtem rund 75 Milliarden Euro Entgeltfortzahlung anfallen (so das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln), die Einführung nur eines Karenztages je Arbeitsunfähigkeit aber schon 40 Milliarden Euro einsparen soll - dann stimmt an der Rechnung etwas nicht. Demnach gäbe es in Deutschland fast ausschliesslich Zwei-Tages-Arbeitsunfähigkeiten (nur dann ließe sich mit einem Karenztag rund die Hälfte der gesamten Kosten sparen). Das ist eher Phantasie als Realität: Rechnerisch gelangt man eher auf ein Einsparvolumen in der Größenordnung von 10 Milliarden Euro (Annahme: jeder Beschäftigte erkrankt im Durchschnitt zwei bis drei mal im Jahr). Das ist auch nicht wenig – aber seriöser gerechnet.

Die praktische Umsetzung eines Karenztags

Probleme würde der Karenztag aber schon bei der praktischen Umsetzung bereiten: Ein Beschäftigter fängt um 8 Uhr an zu arbeiten, arbeitet bis zwölf Uhr und geht dann für den Rest des Tages nach Hause wegen Erkrankung. Nun ist es hier vielleicht einfach, man zieht 50 Prozent eines Tagesentgelts ab - was im Übrigen technisch durchaus herausfordernd ist. Die ungleiche Anzahl an Arbeitstagen je Monat wäre zu berücksichtigen, bei flexibler Arbeitszeit wird es noch herausfordernder und bei Teilzeit – womöglich in einem Modell mit ungleichmäßiger Arbeitszeit – eine echte Aufgabe. Aber gut: Es wäre nicht unmöglich. Allerdings sehr komplex und fehleranfällig.

Die Tarifverträge

Die Arbeitsbedingungen sind größtenteils tarifvertraglich geregelt. So beispielsweise auch in einer der größten Branchen, der Metall- und Elektro-Industrie. Nehmen wir als Beispiel Nordrhein-Westfalen, wo tarifvertraglich folgende Regelung besteht: "Unabhängig von den jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen wird den Beschäftigten in Fällen unverschuldeter, mit Arbeitsunfähigkeit verbundener Krankheit … das regelmäßige Arbeitsentgelt vom Beginn des Arbeitsverhältnisses für die Zeit der Arbeitsverhinderung bis zur Dauer von sechs Wochen ungekürzt weitergezahlt." Es fällt leicht, sich vorzustellen, dass ein "einfaches Wegverhandeln" nicht möglich sein wird. Der Gesetzgeber müsste schon recht massiv regeln, dass Karenztage nicht tarifdispositiv sind. Nun, zu solch einer Regelung bekennt sich keine Partei, weder der Arbeitnehmerflügel der CDU noch die SPD und schon gar nicht die Linke. Daher ist es illusorisch, einem Großteil der Arbeitgebenden in Deutschland eine solche – auch noch mit einem Fragezeichen zu versehende - finanzielle Wohltat zukommen lassen zu wollen.

Das Abschreckungsmoment

Auch eine Abschreckungswirkung wäre nicht wirklich gegeben. Laut Statistischem Bundesamt betrug 2023 das Durchschnittsentgelt in Deutschland knapp 60.000 Euro. Berücksichtigt man, dass diese Vergütung zumeist nicht in zwölf, sondern häufig in 13 oder gar 14 Tranchen ausbezahlt wird, so beträgt das durchschnittliche Monatsentgelt rund 4.600 Euro. Damit entfallen auf den Tag im Schnitt rund 211 Euro. Bei Steuerklasse 1 wäre das Nettoentgelt des Monats bei einem Karenztag statt 2.882 Euro dann 2.781 Euro.  In Lohnsteuerklasse 2 – Alleinerziehende mit einem Kind – statt 3.024 Euro dann 2.920 Euro netto. Eine Einbuße von deutlich unter vier Prozent. Ein "freier Tag" für 100 Euro? Vielleicht sogar ein Schnäppchen – aber keinesfalls abschreckend.

Bei einer Teilzeitbeschäftigung, die sich beispielsweise auf Donnerstag und Freitag erstreckt, sähe das schon anders aus: Bei einem Karenztag entfielen der Teilzeitkraft fast 11,5 Prozent ihres Bruttolohns. Da wird der Arbeitsrechtler sofort hellhörig. Ein Minus von vier Prozent bei Vollzeit und ein Minus von 11,5 Prozent bei Teilzeit heißt: Teilzeitdiskriminierung. Und weil im Verhältnis mehr weibliche Beschäftigte als männliche Beschäftigte in Teilzeitmodellen arbeiten, gar noch mittelbare Geschlechterdiskriminierung. Das bedeutet Arbeitsgerichtsprozesse, mindestens Rechtsunsicherheit, und spätestens in fünf Jahren macht das Bundesarbeitsgericht der Regelung den Garaus.

Aber nochmal zur Vollzeit und den nicht einmal vier Prozent Lohneinbuße im Monat (im Jahr sind das gerade einmal kaum noch messbare 0,3-noch-etwas-Prozent): Nein, wer "krank macht", den schreckt man damit nicht ab. Und wer wirklich krank ist soll ins Bett, damit er schneller wieder gesund ist. Für sich, für den Arbeitgeber und für die Volkswirtschaft. Und was macht man mit denen, bei denen der Verdacht auf "Krankfeiern" besteht? Nach § 5 EntgFG kann der Arbeitgeber schon ab dem ersten Tag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verlangen. Das sollte er aber nicht, denn …

Die Ärzte

Die Ärzte stellen mitunter einen Schwachpunkt im System dar. Nicht jeder, um das deutlich zu sagen, aber immerhin. Ich mache mir nun keine Freunde, habe das aber selbst schon erlebt: Am Dienstag oder Mittwoch der Gang zum Arzt, etliche Kollegen der weißen Zunft schreiben den Arbeitnehmenden automatisch für den Rest der Woche arbeitsunfähig. Auch wenn es nicht nötig ist. Ein Pyrrhussieg für den Arbeitgeber: Statt womöglich nur für einen Ausfalltag zu bezahlen, hat er dann durch die Forderung nach einer AU-Bescheinigung ab dem ersten Tag zwei oder drei Tage Entgeltfortzahlung geleistet.

Die Alternativen

Eine Kostenentlastung der Arbeitgebenden tut dringend not, zumal bei derartigen Zahlen. Will man sich an die Thematik Arbeitsunfähigkeit heranwagen, sollte man aber doch überlegen, wo und wie eine Entlastung stattfinden kann.

Zum Beispiel wäre ein Absenken der Entgeltfortzahlung auf 80 Prozent möglich. Bei gleichzeitiger Steuerfreiheit oder Entfall der Renten- und Arbeitslosenversicherungsanteile der AU-Tage (auch ohne Berücksichtigung in der Progression) könnte man eine Gegenfinanzierung für den Arbeitsunfähigen sicherstellen. Arbeitsunfähig erkrankte Arbeitnehmende hätten mit einer solchen Regelung keine Netto-Einbußen und die Arbeitgebenden würden entlastet werden.

Oder wie wäre es mit einem "Arbeitsunfähigkeits-Budget" auf individueller Ebene? Machen wir gedanklich eine Anleihe am Aufwendungsausgleichsgesetz: Eine Umlage, zu gleichen Teilen arbeitgeber- und arbeitnehmerfinanziert, wird "angesammelt" und für Arbeitsunfähigkeitszeiten verwendet. Beschäftigte, die die Beträge nicht "aufbrauchen" erhalten mit Renteneintritt den Betrag in die Rentenversicherung gutgeschrieben. Ist der Betrag vorzeitig aufgebraucht, wird sofort Krankengeld ausbezahlt. Das würde keinen zu großen Druck auf die Beschäftigten ausüben, trotz Arbeitsunfähigkeit zu arbeiten, aber dennoch Anreize schaffen, nicht "krank zu feiern".

Wie geht es weiter?

Die Ideen mögen als schlecht verworfen werden. Aber sie zeigen, dass es mögliche Alternativen zum Karenztag gibt. Ich denke, dass vor Radikaleinschnitten neue Gedanken entwickelt und aufgegriffen werden sollten.

Aber vermutlich wird sich die ganze Aufregung ohnehin als unnötig erweisen. Ich sehe keine Regierung, die sich an dieses Thema heranwagt, wie auch immer sie nach der Bundestagswahl aussehen wird.


Unser Kolumnist Alexander R. Zumkeller Präsident des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU), sowie Vorstand und Arbeitsdirektor bei ABB, blickt in seiner Kolumne aus der Unternehmenspraxis auf arbeitsrechtliche Themen und Trends.