Interview: "Auf den Zweck der Sonderzahlung achten"
Haufe Online-Redaktion: Das BAG hat zuletzt erstmals entschieden, dass Urlaubs- und Weihnachtsgeld auf den gesetzlichen Mindestlohn anzurechnen sind. Was bedeutet das Urteil für die Praxis?
Marcus Richter: Abschließend lässt sich diese Frage noch nicht beantworten, da das Urteil noch nicht im Volltext, sondern bislang nur als Pressemitteilung vorliegt. Ihr kann man aber entnehmen, dass das BAG mit seinem Urteil die ganz überwiegend in der Literatur vertretene Rechtsansicht bestätigt, wonach Weihnachts- und Urlaubsgeld, das vorbehaltslos monatlich ratierlich gezahlt wird, den Mindestlohnanspruch erfüllt. Das schafft für den Rechtsanwender Rechtssicherheit. Arbeitgeber, die nach Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes vorsorglich Jahressonderzahlungen von einer jährlichen Einmalzahlung hin zu einer ratierlichen, monatlichen Zahlung umgestellt haben, haben gut daran getan. Sie sind mit dem neuen Urteil auf der sicheren Seite. Hingewiesen sei aber auch darauf, dass jedenfalls auf Grundlage der vorliegenden Pressemitteilung weiter offen bleibt, ob nicht auch die einmal jährlich gewährte Sonderzahlung den Mindestlohnanspruch erfüllt. Dies ist nach meiner Meinung zu bejahen, denn nach allgemeinen schuldrechtlichen Prinzipien kommt auch einer nach Fälligkeit auf einen Anspruch erbrachte Leistung Erfüllungswirkung zu. Das LAG Berlin-Brandenburg hatte in der Vorinstanz demgegenüber entschieden, dass der Zahlung des Arbeitgebers nur Erfüllungswirkung zukommt, soweit sie zu dem für den Mindestlohn maßgeblichen Fälligkeitsdatum tatsächlich und unwiderruflich gewährt wird.
Haufe Online-Redaktion: Bei welcher Art von Sonderzahlung ist eine Anrechnung auf den Mindestlohn möglich und unter welchen Voraussetzungen?
Richter: Der Pressemitteilung zum Urteil des BAG ist zu entnehmen, dass jedwede im Austauschverhältnis zur Arbeitsleistung stehende Zahlung des Arbeitgebers den Mindestlohnanspruch erfüllt. Das Urteil hat damit auch Erklärungsgehalt über die klassische Sonderzahlung hinaus. Nur soweit eine Leistung des Arbeitgebers zu einem anderen Zweck als der Vergütung der Arbeitsleistung erbracht wird, wie etwa bei der Prämierung der Betriebstreue, Schmutzzulagen oder Nachtzuschlägen, scheidet eine Anrechnung der Leistung auf den Mindestlohn aus. Es muss folglich im Einzelfall geprüft werden, ob die in Rede stehende Leistung des Arbeitgebers im Austauschverhältnis zur Arbeitsleistung steht. Das wird in der Regel leistbar sein, wenngleich die Bewertung in Einzelfällen auch einmal Schwierigkeiten bereiten kann. So kann eine als "Weihnachtsgeld" bezeichnete Leistung als 13. Gehalt bezweckt sein, also im Austauschverhältnis zur Arbeitsleistung stehen. Ebenso kann es dazu dienen, die zum Jahresende regelmäßig anfallenden höheren wirtschaftlichen Belastungen des Arbeitnehmers abzufedern. Vor diesem Hintergrund ist der Arbeitgeber gut beraten, bei der Formulierung der einschlägigen Regelungen sorgfältig auf die Auswirkungen der jeweils gewählten Zweckbeschreibung zu achten. Soll die Anrechenbarkeit der Leistung auf den Mindestlohn gesichert werden, sollte das Austauschverhältnis entweder ausdrücklich erwähnt werden, zumindest aber durch die Festschreibung einer ratierlichen Gewährung im Eintritts- und Austrittsjahr gekennzeichnet werden. Da nach der Entscheidung des BAG weitere Voraussetzung für die Anrechenbarkeit auf den Mindestlohn ist, dass die Entgeltzahlungen dem Arbeitnehmer „endgültig verbleiben“, empfiehlt es sich ferner eine vorbehaltlose, nicht durch Widerrufsrechte belastete monatliche Auszahlung der Leistung der Sonderzahlung vorzusehen.
Haufe Online-Redaktion: Ist damit also alles geklärt oder welche zwei praktisch wichtigen Fragen sind im Zusammenhang mit der Leistung des Mindestlohns nach wie vor offen?
Richter: Klärungsbedürftig bleibt die Frage, ob Sachleistungen mit Entgeltcharakter, wie etwa der auch zur Privatnutzung überlassene Dienstwagen, den Anspruch auf den Mindestlohn erfüllen. Wobei diese Frage – zugegebener Maßen – eher theoretischer Natur ist, da Arbeitnehmer, denen ein Dienstwagen auch zur privaten Nutzung überlassen wird, in aller Regel ohnehin Vergütungen oberhalb des Mindestlohns beziehen. Eine für die Praxis interessantere Frage im Kontext der Leistung des gesetzlichen Mindestlohns ist, ob durch eine Tarifregelung gemäß § 4 Abs. 4 Entgeltfortzahlungsgesetz die Höhe des im Entgeltfortzahlungszeitraum zu leistenden Entgelts auch unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns angesetzt werden kann. Nach meiner Einschätzung ist diese Frage eindeutig mit „ja“ zu beantworten, denn der an sich unabdingbare (§ 3 MiLoG) Mindestlohnanspruch ist nur für Zeiten zu gewähren, in dem die Arbeitsleistung tatsächlich erbracht wurde.
Dr. Marcus Richter ist Partner der Kanzlei Görg Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB und Leiter der Serviceline Arbeitsrecht.
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