Wenn Studierende der Wirtschaftspsychologie nach ihrem Abschluss in die Personalabteilung eines Unternehmens eintreten, erleben sie nicht selten ein Wechselbad der Gefühle. Auf der einen Seite wird man freundlich Willkommen geheißen. Die Kolleginnen und Kollegen helfen dabei, sich zurecht zu finden und manche interessieren sich sogar für die Ansichten der Frischlinge. Auf der anderen Seite lernt man aber auch sehr schnell, dass es mit der Innovationsfreude und Offenheit, die im Wertekanon des Unternehmens so hochgepriesen wurden, nicht allzu weit her ist.
Das Gegenargument 1: Jahrelange Erfahrung
Da gibt es zum Beispiel die Absolventin, die nach ihrem Einstieg in einen Konzern schon nach wenigen Wochen erkennt, dass kein einziges Testverfahren, das dort eingesetzt wird, auch nur halbwegs seriös ist. Ihr Chef nimmt den Hinweis gönnerhaft zur Kenntnis, verweist aber darauf, dass die Verfahren schon seit Jahrzehnten Verwendung finden und sich sehr gut bewährt hätten. Belege für den Nutzen kann er selbstverständlich nicht vorlegen, aber dafür scheint sich auch niemand zu interessieren.
Das Gegenargument 2: Mittelwert sticht alles
Ein anderer Absolvent ist in einer großen Personalberatung gelandet. Auf dem Weg zum Kunden-Assessment-Center fällt ihm auf, dass in ein und demselben Verfahren die Leistung in der einen Übung mit einer vierstufigen Skala bewertet wird und in einer anderen mit einer fünfstufigen. Der erfahrene Beraterkollege versteht das Problem nicht. Am Ende wird doch ohnehin einfach über alles hinweg ein Mittelwert berechnet.
Das Gegenargument 3: Ein hoher Zufriedenheitswert
Eine dritte Person hat immerhin das Glück, dass sie halbwegs ernst genommen wird. Sie kann ihrem Chef deutlich machen, dass es sinnvoll wäre, die prognostische Validität des Auswahlverfahrens für die Trainees zu berechnen. Alle Daten, die hierfür notwendig sind, schlummern ohnehin seit Jahren ungenutzt im Personal-Computer. Gesagt, getan. Dumm nur, dass sich im Ergebnis eine negative Validität zeigt: Je besser angehende Trainees im Auswahlverfahren abschneiden, desto geringer ist ihre Leistung im Berufsalltag.
Herzlichen Glückwunsch! Es dürfte nicht allzu leicht sein, ein Auswahlverfahren zu stricken, das schlechtere Prognosen liefert als ein Münzwurf. Doch hat sich denn nach dieser Erkenntnis irgendetwas geändert? Nein, natürlich nicht. Wer hört schon gern Berufsanfängerinnen und Berufsanfängern zu, wenn alle alten Hasen und Häsinnen im Haus mit dem Verfahren zufrieden sind.
Das Gegenargument 4: Blender und Lügner entlarven
In einem großen Handelskonzern wundert sich eine weitere Berufsanfängerin, warum bei der Vorauswahl für das Trainingsprogramm für Nachwuchsführungskräfte die internen Bewerberinnen und Bewerber eine handschriftliche Bewerbung abgeben müssen. Sie ahnt Böses und ihre Befürchtung erweist sich schließlich als zutreffend: Die entscheidende Methode zur Vorauswahl ist eine Deutung der Handschrift durch einen externen Graphologen.
Als die Berufsanfängerin ihre ältere Kollegin darauf anspricht, dass die Graphologie seit mindestens 30 Jahren als widerlegt gilt, erntet sie nur ein mitleidiges Lächeln. Die Graphologie sei die einzige Methode, die nach Ansicht der Diagnostik-Expertin weiterhelfen kann, schließlich würden die Leute im Interview nur lügen, ihre Handschrift könnten sie aber nicht verstellen. Richtig – aber sollte man dann nicht lieber gleich die Körpergröße zur Auswahl nutzen? Sie lässt sich doch noch schlechter verstellen als die eigene Handschrift.
Das Gegenargument 5: Das Management entscheidet
Ein Vorstandsmitglied eines bekannten Unternehmens sucht eine persönliche Assistenz. Bei der Sichtung der Bewerbungsunterlagen wird zunächst nach dem Tierkreiszeichen gefiltert. Als eine Berufsanfängerin ihre Kollegin auf diese Eselei anspricht, wird ihr die wichtigste Spielregel für ihr weiteres Berufsleben präsentiert: "Die Chefs sagen, was sie wollen, und wir setzen das um."
Das Gegenargument 6: Harmonie in der Zusammenarbeit
In einem anderen Unternehmen erläutert eine Personalerin mit etwa fünf Jahren Berufserfahrung, wie sie in ihrer Personalabteilung überlebt. Die Gruppe besteht aus sechs Personen inklusive Führungskraft. Die Ausbildungen könnten kaum weiter voneinander entfernt sein: Psychologie, Jura, Lehramt, BWL, Geografie und Sinologie. Das oberste Ziel ist, möglichst harmonisch miteinander zusammenzuarbeiten. Schließlich muss man noch Jahre miteinander auskommen.
Alles wird gemeinsam entschieden, denn Konsensentscheidungen führen bekanntlich zu den besten Ergebnissen. Keiner darf kompetenter sein als die anderen. Wenn der Pädagoge nicht daran glaubt, dass Intelligenztests irgendeine Aussagekraft besitzen, verzichtet man auf die Messung der Intelligenz in der Personalauswahl. Wenn die Sinologin an Fengshui glaubt, wird eine passende Trainerin eingekauft. Bloß keinen Ärger!
Schöne Aussichten für Menschen, die in 13 Jahren Schule und fünf Jahren Studium zumindest halbwegs nach den Idealen der Aufklärung ausgebildet wurden. Alles für die Katz! Aber Hauptsache, alle haben sich lieb.
Der Kolumnist Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.
Schauen Sie auch einmal in den Youtube-Kanal "15 Minuten Wirtschaftspsychologie" hinein. Dort erläutert Uwe P. Kanning zum Beispiel zusammenfassend, wie Sie gute von schlechten Testverfahren unterscheiden, warum Manager scheitern, wie ein Akzent die Bewertung von Bewerbern beeinflusst oder wie "smart" gesetzte Ziele für eine Leistungssteigerung sein müssen.