Charles Jennings: So geht informelles Lernen

Informelles Lernen gilt als die wichtigste Lernform der Zukunft. Entsprechend viele Unternehmen bauen auf das 70-20-10-Konzept, nach dem ein Großteil des Lernens informell läuft. Charles Jennings, der als Pionier dieses Konzepts gilt, erklärt im Interview, wie informelles Lernen am Arbeitsplatz gelingt.

Herr Jennings, was steckt hinter Ihrem 70-20-10-Konzept?

Charles Jennings: Die Zahlen stehen für drei unterschiedliche Lernformen, die sich aber oft überlappen: Die 70 steht für Lernen durch Arbeit – das beinhaltet Erfahrungen, Praxis und Reflexion. Die 20 steht für Lernen von und mit anderen – etwa Kollegen, Vorgesetzten, Leistungsträgern, Mitgliedern von Communities oder dem Partner und Kindern. Die 10 ist das formelle Lernen, dazu gehören unter anderem Kurse, E-Learning und Bücher. Das Modell ist eine Struktur, innerhalb derer sich Lernen und Entwicklung, das Learning and Development an den Geschäfts- und Organisationszielen ausrichtet.

Informelles Lernen: Je näher am Einsatzort, desto besser

Warum glauben Sie, dass informelles Lernen wichtiger ist als formelles Lernen?

Jennings: Es ist erwiesen, dass wir mehr aus unserer eigenen Arbeit und von Arbeitskollegen lernen als von formellen Schulungen. Professor Andries de Grip beispielsweise veröffentlichte im Juni 2015 einen Report zur Bedeutung von informellem Lernen am Arbeitsplatz. Er geht davon aus, dass 98 Prozent der Zeit, die wir auf das Lernen verwenden, informell ist. Und je näher das Lernen am Einsatzort stattfindet, desto effektiver ist es.

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Welche Themen eignen sich für informelles beziehungsweise formelles Lernen?

Jennings: Ich habe bisher noch kein einziges Thema gefunden, das sich nicht dafür eignet. Da alles Lernen in einem Kontext erfolgt, liefert das 70-20-10-Modell die Möglichkeit, sich kontextbezogen auf die Performance zu fokussieren. Wenn man beispielsweise herausragende Musiker, Designer oder Architekten betrachtet, haben fast alle mit formellem Lernen begonnen. Aber Qualifikationen allein bringen weder Höchstleistung noch Kreativität hervor. In meiner Zeit als Chief Learning Officer bei der Nachrichtenagentur Reuters habe ich nicht einen einzigen Kandidaten nur aufgrund seiner Qualifikationen eingestellt.

Lernen im Arbeitsablauf hat großen Effekt

Lernen wir in einer ruhigen Umgebung nicht besser, wenn wir uns auf formelles Material konzentrieren und es Schritt für Schritt durcharbeiten können?

Jennings: Ja, manchmal schon. Wenn wir Zeit haben, uns ohne Ablenkung auf neue Ideen und Informationen zu konzentrieren, ist das hilfreich. Aber in der Medizin beispielsweise haben Studien gezeigt, dass längere Erfahrung und Praxis zu weniger Komplikationen führt. Lernen im täglichen Arbeitsablauf hat einen sehr großen Effekt.

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Aber wer eine Fremdsprache lernen will, kommt um ein strukturiertes Grammatik- und Vokabeltraining nicht herum, oder?

Jennings: Wenn man mit einer neuen Fremdsprache beginnt, ist es natürlich wichtig, Grammatikstrukturen zu verstehen und eine gewisse Anzahl an Vokabeln zu kennen. Aber ein bestandener Test macht noch keinen guten Linguisten. Wir sollten das Speichern im Kurzzeitgedächtnis nicht mit Lernen verwechseln. Um ihre Prüfungen zu bestehen und ihren Uni-Abschluss zu bekommen, stopfen sich Sprachstudenten das Gehirn mit Informationen voll. Aber was bleibt nach drei oder sechs Monaten übrig? Ohne regelmäßige Praxis und Anwendung vergisst man das meiste, das man 'gelernt' hat, wieder.

E-Learning bislang zu "Content-lastig"

Welche Lernkonzepte treffen Sie in den Unternehmen an?

Jennings: Viele Unternehmen planen ihr Learning and Development mit einer – wie ich es nenne – kurszentrierten Mentalität, wo alles in Kurse, Programme und Curricula gepackt wird. Auf informelles Lernen wird kaum Wert gelegt. HR- und Weiterbildungsverantwortliche sehen ihre Aufgabe vor allem darin, Content und Kurse zu planen, zu entwickeln und zu verteilen. Aber wir wissen, dass Höchstleistung nicht nur von formalem Wissen und Fertigkeiten abhängt, sondern auch vom richtigen Arbeitsumfeld und den richtigen Arbeitsinstrumenten. Manche Unternehmen schaffen den Einstieg in die Wissensära, doch die meisten E-Learning-Angebote sind noch viel zu contentlastig. Sogar das Micro-Learning und die Learning Nuggets, die sogenannten Wissensbissen, stellen den Content in den Mittelpunkt und basieren auf Informationen und 'Wissenstransfer'.

Was haben Sie gegen den Begriff 'Wissenstransfer'?

Jennings: Wir können nicht wirklich Wissen transferieren. Man kann anderen helfen, ihr eigenes Wissen aufzubauen, aber es ist kein Eimer, den man weiterreicht. Das Wissen von Leistungsträgern ist größtenteils implizit. Es kann demnach nicht erfasst und verpackt werden. Diese Menschen treffen ständig Entscheidungen innerhalb eines stetig wechselnden Umfelds. Wir müssen unser Denken und Handeln weniger dem Wissenstransfer widmen als vielmehr der Unterstützung von Mitarbeitern in ihren täglichen Arbeitsabläufen. Das bedeutet eine Verlagerung von 'course to ressource'.

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Wie sollten Arbeitsplätze strukturiert und gestaltet werden, um ein effektives Lernen zu unterstützen?

Jennings: Man braucht nicht unbedingt eine physikalische Veränderung von Gebäuden und Arbeitsplätzen. Man muss stattdessen an der Lernkultur der Organisation arbeiten. Ein Beispiel ist das Lernen aus Irrtümern und Fehlern. Die Luftfahrt beispielsweise ist deutlich sicherer als die Medizin, denn sie pflegen eine Kultur, aus Fehlern zu lernen. Wenn Piloten einen Fehler machen, berichten sie darüber, denn sie sind gesetzlich vor Entlassung geschützt. Die Fluglinien teilen ihre Reports und Erkenntnisse mit anderen, sodass jeder davon profitieren kann.

Wie können Lernprozesse in die Geschäftsprozesse integriert werden, ohne die Arbeit zu stören?

Jennings: Indem man beispielsweise die Mitarbeiter identifiziert, die verstanden haben, was sie tun, und ihre Aufgabe deshalb besonders gut erfüllen. Dann sollte man Hilfsprogramme einrichten, damit andere eine ebenso gute Leistung erbringen, sogenannte Performance Support Tools. Ich habe schon Situationen erlebt, in denen Mitarbeiter trotz eines Zwölf-Wochen-Trainings ihre Arbeit nicht erledigen konnten. Sie brauchten mindestens ein weiteres Jahr, um das Leistungsniveau zu erreichen. Als wir einen bildschirmbasierten Performance Support einführten, steigerte sich ihre Leistung sofort um 20 Prozent.

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Kennen HR-Manager Ihre Methode?

Jennings: Einige ja, aber leider verstehen viele HR-Experten nicht, wie Lernen und Leistung funktionieren. Das gehört nicht zu ihren Kernkompetenzen. Wie vielen Managern fällt es ihnen oft schwer, zwischen lernen und schulen zu unterscheiden – sie betrachten lernen als etwas, das im Klassenzimmer stattfindet. HR-Manager sind oft blind, wenn es um die Möglichkeiten, wie Mitarbeiter am Arbeitsplatz lernen und sich weiterentwickeln können, geht.

Lernen am Arbeitsplatz: Keiner kann sich leisten, es nicht zu tun

Konzerne und manche KMU sagen, sie könnten es sich finanziell nicht leisten, Lernen am Arbeitsplatz anzubieten. Was sagen Sie ihnen?

Jennings: Sie können es sich nicht leisten, es nicht zu tun. Es wird extrem viel Geld für formelle Trainings wie etwa Managementschulungen verschwendet. McKinsey hat herausgefunden, dass die meisten Führungskräftetrainings nicht funktionieren, weil der Kontext fehlt. Und solche Programme sind teuer. Unter den mehr als 200 Organisationen, die ich bisher betreut habe, ist nicht eine einzige, bei der die Einführung der 70-20-10-Methode zu Mehrkosten geführt hat.

Bauen Sie Soziale Netzwerke mit ein? Und in welchen Teil des 70:20:10 Models würden Sie diese einordnen?

Jennings: Ja, Soziale Netzwerke sind sehr wichtig – vor allem für Wissensarbeiter. Je besser Menschen vernetzt sind, desto mehr Leistung können sie erbringen. Wir lernen ständig von anderen in unserer täglichen Arbeit. Studien haben ergeben, dass, gemessen an ihrer Leistung, die oberen 20 Prozent der Manager tendenziell stärkere und vielseitigere Netzwerke betreiben als ihre weniger leistungsfähigen Kollegen.

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Haben Mitarbeiter beim informellen Lernen mehr Einfluss darauf, was und wie sie lernen?

Jennings: Ja, auf jeden Fall. Aber es gibt auch Einschränkungen. Was unabhängige Lerner zu lernen haben, wird von ihrer Arbeit bestimmt. Das heißt, ihre Vorgesetzten haben einen Einfluss darauf, was und wie oft ihre Mitarbeiter lernen. Verständnis und Führung durch das Management sind wichtig bei fast jeder Form informellen Lernens.

Sind Mitarbeiter gewillt und kompetent genug, um das Lernen in die eigenen Hände zu nehmen?

Jennings: Ja, das sind sie. Wir dürfen nicht vergessen, dass Mitarbeiter erwachsene Menschen sind. Eines der Probleme liegt darin, dass viele Learning-and-Development- und HR-Experten sie als Lerner betrachten und dabei Schüler oder gar Kinder meinen. Die meisten Erwachsenen wissen sehr wohl, welche Fähigkeiten sie benötigen.

 

Charles Jennings ist Mitbegründer des Lernberatungsunternehmens 70-20-10 Institute. Der Brite war der Erste, der das 70-20-10-Modell in der Praxis umsetzte – im Jahr 2002 als Chief Learning Officer bei der Nachrichtenagentur Reuters.

Das Interview führte Kirsten Seegmüller, freie Journalistin, im Auftrag der Karlsruher Messe-und-Kongress GmbH.

 

Termintipp:

Charles Jennings tritt am 30. Januar 2018 mit der Keynote "Exploiting Learning in the Workplace: informal learning and the 70-20-10 model" auf der E-Learning-Messe "Learntec" auf. Mehr Informationen zur Messe und dem parallel stattfindenden Learntec-Kongress finden Sie unter www.learntec.de.

Messe Karlsruhe

Schlagworte zum Thema:  Weiterbildung, Personalentwicklung, E-Learning