"Drop your tools": Warum Verlernen weiterbringen kann


"Drop your tools": Warum Verlernen weiterbringen kann

Entwickeln durch Verlernen: Unser Kolumnist Oliver Maassen zeigt diesmal am Beispiel einer menschlichen Katastrophe, wie wichtig das Ablegen eingeübter Denk- und Verhaltensweisen in kritischen Situationen sein kann – und liefert einen Reflexionscheck, der helfen kann, das Verlernen zu lernen.

Eine Gruppe von Feuerwehrleuten kämpft im Bundesstaat Colorado seit Tagen gegen eines der größten Buschfeuer der Geschichte an. Mit schwerem Gerät sind die Feuerwehrleute in unzugänglicher Landschaft unterwegs, um eine Schneise zu schlagen, die dem Feuer Einhalt gebieten soll. Plötzlich springt das Feuer durch eine Windböe über die Männer hinweg und in Sekunden sind sie komplett von tosenden Bränden eingeschlossen. Als die Gruppe sich zum Waldrand zurückzieht, erreicht sie binnen Sekunden das Feuer, die Männer haben keine Chance.

Untersuchungen der US-Behörden dieses im Jahr 1994 geschehenen Unglücks zeigen später, dass die Männer schwer bepackt mit ihren Gerätschaften auf dem Rückzug waren. Den Befehl, das Material zurückzulassen ("Drop your tools!"), hatten die Feuerwehrmänner ignoriert. Ähnlich gelagerte Fälle kennt man aus dem Militär, wo Seeleute beim Sinken eines U-Boots trotz des ausdrücklichen Befehls ihre Schuhe zurückzulassen mit ihren stahlbesohlten Stiefeln in die Schlauchboote sprangen, diese schwer beschädigten und zum Kentern brachten.

Reaktionen auf Krisen: wegrennen, tot stellen, angreifen

Wenn uns die Situation der Feuerwehrleute in Colorado erstaunlich vertraut vorkommt, dann liegt das wohl daran, dass wir alle auch schon in ähnlichen Situationen waren: In unserer täglichen Arbeitsroutine kommt es plötzlich zu einer Veränderung, egal ob im Kleinen oder zu einer lebensbedrohlichen Situation wie in jenem Canyon 1994.

Die Reaktionen auf so eine Krise, die Veränderungsdruck auslöst, sind so unterschiedlich wie die Menschen, die in die Situation geraten. Im Unternehmen erleben wir ständig die folgenden holzschnittartigen Handlungsschemen:

  • das Wegrennen vor der Situation, messbar in Form von Krankmeldungen oder Kündigungen
  • das Totstellen, also eine Art Vogel-Strauß-Politik, in der Hoffnung, dass der Sturm vorübergeht
  • das Angreifen, um mit den bisherigen Werkzeugen und Methoden in stärkerer Ausprägung eine Lösung zu finden
  • oder eben die "Drop-your-tools"-Strategie, das Wegwerfen der bisherigen Instrumente und das Ausrichten auf die neue Situation 

"Drop your tools": keine intuitive Strategie

Erfahrung und Studien belegen, dass das Wegwerfen der Instrumente ("drop your tools") eine zu bevorzugende Strategie im Umgang mit Veränderungen ist. Sie ist aber gleichzeitig nicht intuitiv – sie widerspricht unseren tiefen menschlichen Reaktionsschemata – und muss daher hart erlernt werden.

Entwicklung besteht auch ganz wesentlich aus der Fähigkeit zum Verlernen – eine Kompetenz, die im Management immer weniger anzutreffen ist und die durch unser heutiges Bildungssystem weder in Schule noch Hochschule vermittelt wird. Die Notwendigkeit nicht nur des lebenslangen Lernens, sondern gerade auch des ständigen Verlernens – und das ist eben ein ganzes Stück "drop your tools" – erzeugt bei vielen Menschen den Aufbau von Verteidigungspositionen, die zu interner Politik, zum Ausspielen von Arbeitskollegen und häufig sogar zum Mobbing führen.

Wenn ein Personalentwickler einem Manager erklären sollte, dass er erst einmal etwas verlernen soll, wäre das Gespräch in vielen Fällen wohl ziemlich schnell zu Ende.

Analyse: Warum halten wir an alten Instrumenten fest?

Das tragische Beispiel der Feuerwehrleute von Colorado zeigt jedoch, wie wichtig – manchmal lebensnotwendig – es ist, sich von liebgewonnenen Verhaltensweisen oder antrainierten Ritualen auch wieder zu verabschieden. Nur ist dies eben nicht so einfach möglich.

In einer Analyse der "Drop-your-tool"-Situation von Karl Weick von der University of Michigan wird aufgezeigt, warum die Feuerwehrleute diesen Befehl ignoriert haben könnten. Neben einfacheren Erklärungsmustern – wie den Befehl nicht gehört, Angst vor dem Wegwerfen kostbarer Werkzeuge gehabt oder den Befehlsgeber nicht als Autorität anerkannt zu haben – sind es insbesondere zwei Ansätze, die Bedeutung für die Personalentwicklung haben.

Zum einen ist das der Punkt der Identität: Mensch und Werkzeug sind für Feuerwehrleute eine Einheit, untrennbar miteinander verbunden. Damit sind die Werkzeuge Teil ihrer Identität und definieren ihre Kultur. Sie wegzuwerfen hätte eine existenzielle Krise bedeutet.

Zum anderen – und auf den ersten Blick mag das verrückt erscheinen – fehlte es den Feuerwehrleuten wohl auch an der Fähigkeit des Fallenlassens. Etliche Überlebende berichteten, dass sie erst einen Platz gesucht hätten, wo sie ihre Werkzeuge geordnet und womöglich geschützt ablegen konnten. Wie in jedem Training hatten auch die Feuerwehrleute gelernt sorgsam mit ihren teuren Werkzeugen umzugehen, deshalb suchten sie nach einer geeigneten Lagermöglichkeit und verloren wertvolle Sekunden.

Reflexionsfragen: Was beim Verlernen lernen hilft

Alle Erklärungsversuche haben eines gemeinsam: Sie geißeln die innovationsfeindliche Kraft der gelernten Routinen von Menschen und Organisationen. Die Herausforderung besteht darin, in kritischen Situationen die lieb gewonnenen Verhaltensweisen loszulassen, statt sie reflexartig noch fester zu greifen.

Wie aber geht das Verlernen? Einige Reflexionsfragen können einen ersten Einstieg in die Thematik für Organisationen und Individuen gleichermaßen liefern:

  • Welche Verhaltensweisen und Routinen treten besonders häufig auf?
  • Auf welchen Grundannahmen basiert das gezeigte Verhalten?
  • Wie ist der künftige Nutzen für dieses Verhalten einzuschätzen?
  • Was ist schon heute schädlich oder könnte in Zukunft schädlich werden?
  • Welche neuen Verhaltensweisen sind in Zukunft hilfreich und können die alten Routinen ersetzen?

Wenn wir uns und unsere Organisationen flexibler in Krisensituationen machen wollen, gehört die Strategie des Verlernens zwingend in unser Programm als Personalentwickler. Bleibt nur die Frage, welche Instrumente wir als erstes wegwerfen.

Kolumnist Oliver Maassen

Oliver Maassen ist seit 2013 Geschäftsführer der  Pawlik Consultants GmbH. Zuvor war er unter anderem Bereichsvorstand und Personalchef der Unicredit Bank. In seinen früheren Funktionen verantwortete er die Bereiche Personal- und Organisationsentwicklung, Führungstrainings, Personalmarketing und Talent Management. Er ist zudem Gründungsvorstand der Zukunftsallianz Arbeit und Gesellschaft (ZAAG).