Erinnerung als Teil der Unternehmenskultur
Während Daimler und Volkswagen schon vor Jahrzehnten Historiker mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte im Nationalsozialismus beauftragten, hat der Vorstand von Continental erst 2015 den Historiker Professor Dr. Paul Erker damit beauftragt, der jetzt die Studie "Zulieferer für Hitlers Krieg. Der Continental-Konzern in der NS-Zeit" vorlegte. Die Studie zeichnet detailliert nach, wie Continental zu einem Stützpfeiler der nationalsozialistischen Rüstungs- und Kriegswirtschaft wurde, wie der Konzern von der Mobilisierungs- und Aufrüstungspolitik des Regimes wirtschaftlich profitierte und wie Zwangsarbeiter ausgebeutet und zugrunde gerichtet wurden.
Continental als Rückgrat der nationalsozialistischen Rüstungswirtschaft
CEO Dr. Elmar Degenhart und Personalvorständin Dr. Ariane Reinhart, die zusammen mit Paul Erker die Studie in einer Pressekonferenz präsentierten, zeigten sich erschüttert von den Analysen und Geschichten, die in dem 800 Seiten dicken Werk zu finden sind. "Manchmal hat es mir die Tränen in die Augen getrieben", erzählt Reinhart, die von der Geschichte einer französischen Arbeiterin beeindruckt war, die trotz rassistischer Behandlung ihre Würde behalten habe.
Die Untersuchung zeichnet detailliert nach, wie die Continental-Unternehmenskultur schrittweise deformiert wurde und sich das Unternehmen zu einem kriegswichtigen Betrieb entwickelte. Das Verhalten und die Entscheidungsprozesse des damaligen Managements werden in der Studie ebenso sichtbar, wie die Erfahrungen der Mitarbeiter. Continental stellte vor dem Krieg zahlreiche Produkte für die nationalsozialistische Freizeit- und Konsumgesellschaft her, bevor das Produktportfolio mehr und mehr von Rüstungsgütern dominiert wurde. "Die Zuliefererindustrie und mit ihr Continental, VDO, Teves, Phoenix und Semperit waren das eigentliche Rückgrat der nationalsozialistischen Rüstungs- und Kriegswirtschaft", sagt Erker dazu.
Zunehmende Radikalität im Personaleinsatz
So setzte Continental im Zweiten Weltkrieg laut Studie insgesamt rund 10.000 Zwangsarbeiter ein, die den damaligen Arbeitskräftemangel in den Werken kompensieren sollten. Ihre Anzahl entwickelte sich sehr dynamisch. Ihr Ursprung war vielfältig und reichte von italienischen "Jungfaschisten" über Leiharbeiter aus dem besetzten Belgien bis hin zu französischen und russischen Kriegsgefangenen. Schrittweise wurde der Charakter ihres Einsatzes immer radikaler. In den letzten Kriegsjahren waren es dann KZ-Häftlinge, die zum Beispiel in der Produktion von Gasmasken und bei der Verlagerung der Produktion unter Tage eingesetzt wurden. Die Arbeits- und Lebensbedingungen dieser Menschen waren menschenunwürdig. Das Continental-Management war in diesen Prozess aktiv involviert und trug die schrittweise Radikalisierung der Arbeitskräftemobilisierung mit.
"Bei Continental ergaben sich keine unheilvollen Konstellationen eines systematischen Unterdrückungssystems, aber dennoch kam es zu Eigendynamiken einzelner dieser Funktionsträger", beschreibt Erker in der Studie das Ausmaß des Zwangsarbeitereinsatzes in dem Unternehmen. Er dokumentiert in diesem Zusammenhang auch die Mitbeteiligung von Continental an Schuhprüfstrecken, auf denen KZ-Häftlinge bis zur Entkräftung und zum Tod ausgebeutet und misshandelt wurden.
Fragilität der Unternehmenskultur
Der Blick in diese Geschichte zeigt, wie fragil Unternehmenskulturen sind. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts verfügte Continental, das von jüdischen Privatbankiers gegründet wurde, über eine liberale Unternehmenskultur mit weltweiten Kontakten. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten betrieb die Firma eine Zwangsarisierung und mauserte sich zu einem NS-Musterbetrieb. "Die Geschichte zeigt uns: Unternehmenskulturen können unter dem Druck politischer Regime und gegenläufiger gesellschaftlicher Einflüsse schnell kippen", erklärt Ariane Reinhart und leitet daraus eine Verantwortung für die Gegenwart ab: "Aus diesem Grunde sind Unternehmenskulturen ständig zu überprüfen, zu stärken und fortwährend weiterzuentwickeln. Dazu gehört eine gesunde Erinnerungskultur, um aus der Vergangenheit die Gewissheit für unsere heutige Identität und die Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen."
Elemente einer Erinnerungskultur
Degenhart und Reinhart wollen die Auseinandersetzung mit der dunklen Geschichte im Unternehmen mit dem Programm "Verantwortung und Zukunft" vorantreiben. Die Personalvorständin erwartet von jeder Führungskraft, dass sie sich mit der Studie von Paul Erker beschäftigt und will das Thema in die Berufsausbildung integrieren.
Degenhart verweist darauf, dass die Firma wieder einen Archivar beschäftige und das Unternehmensarchiv für die Wissenschaft zugänglich machen wolle. Mit einem Stipendium soll die wissenschaftliche Forschung gefördert werden. Auch eine Gedenktafel mit den Namen aller Zwangsarbeiter sei geplant. Beim Thema Entschädigung der Zwangsarbeiter verwies der CEO darauf, dass sie sich vor zwei Jahrzehnten bei der bundesweiten Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" mit einem zweistelligen Millionenbetrag beteiligt haben. Die ehemaligen Zwangsarbeiter seien alle verstorben, es habe Gespräche mit Familien gegeben, aber weitere Entschädigungen sind nicht geplant.
Für Degenhart und Reinhart, die bei der Pressekonferenz abgestimmt und auf Augenhöhe auftraten, steht fest: "Ohne Kenntnis der Vergangenheit und damit ohne eine vollständige Aufarbeitung der NS-Geschichte ist für uns ein reflektierter und unbefangener Aufbruch in eine erfolgreiche Zukunft und die nächsten 150 Jahre von Continental nicht möglich."
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