"Freedom to Act" bei Continental

Zu Innovation gehören Freiräume für Mitarbeiter. Doch wo liegen deren Grenze? Brauchen Unternehmen Rebellen, die Regeln und Strukturen infrage stellen? Ein Gespräch mit dem als Organisationsrebell bekannten Harald Schirmer und seiner Chefin Ariane Reinhart, CHRO von Continental.

Personalmagazin: Continental steht vor einem Strukturwandel: Sie bauen neue Geschäftsfelder wie Fahrassistenzsysteme, Autonomes Fahren oder künstliche Intelligenz auf. Wie wichtig ist die Unternehmenskultur, um so einen Change hinzubekommen?

Dr. Ariane Reinhart: Für mich ist die Unternehmenskultur ein Enabler für Innovationen. Unsere Werte sind Vertrauen, Verbundenheit, Gewinnermentalität und Freiheit – "Freedom to act". Wir pflegen eine konstruktive Fehlerkultur. Die Möglichkeit, mit neuen Projekten auch mal zu scheitern, schafft ein Umfeld, in dem sich die Leute trauen, Dinge anders und andere Dinge zu tun. Das gibt Raum für Experimente. Allerdings setzen wir Fehlern Grenzen, wenn es um sicherheitsrelevante Teile wie Airbags, Bremsen oder Reifen geht. Unser gesamter Wertekanon ist der Kompass für jegliches Tun. Das ist unser GPS, mit dem wir Innovationen einfacher umsetzen können. 

Freiheit, Selbstbestimmung und Flexibilität für alle Mitarbeiter

Personalmagazin: "Freedom to act" ist eine starke Aussage – allerdings mit der latenten Gefahr, zur Worthülse zu werden. Wie leben Sie diesen Wert in der Realität?

Reinhart: Freiheit hat viel mit Selbstbestimmung zu tun. Jeder soll sich da einbringen, wo er im Unternehmen den größten Mehrwert stiftet. Wir haben weltweit flexible Arbeitsbedingungen eingeführt – die Möglichkeit in Teilzeit, mobil oder im Homeoffice zu arbeiten oder ein Sabbatical zu machen. Damit möchten wir den Leuten Flexibilität geben und Freiräume schaffen, um sich beispielsweise weiterzuqualifizieren. Das gilt für alle Mitarbeiter, auch in der Produktion. Wir möchten keine Zweiklassengesellschaft haben. 

Harald Schirmer: Als wir bei den Werten den Begriff Freiheit eingeführt haben, kam schon von vielen die Frage: "Kann ich jetzt machen, was ich will?". Freiheit steht für uns immer im Unternehmenskontext und ist abhängig von der aktuellen Aufgabe.  

Reinhart: Das Thema mitnehmen und kommunizieren ist dabei sehr wichtig. Als wir das Future-Work-Konzept mit den flexiblen Arbeitszeiten für alle weltweit lanciert haben, wurde das durch eine ganz starke Kampagne im internen sozialen Netzwerk ConNext begleitet. Wir haben dort über einige Monate 700.000 Aktivitäten gehabt, Leute dazu befragt und viele Videos gedreht. Dafür braucht man solche Enthusiasten an der Speerspitze der Bewegung wie Harald Schirmer, der sagt: "Das ist super, wir können hier wirklich etwas verändern, wenn alle mitmachen."

Click to tweet

Die Rolle des Organisationsrebellen

Personalmagazin: Mit Harald Schirmer fördern Sie einen Mitarbeiter, der sich sehr viele Freiheiten nimmt ...

Reinhart: Harald ist das beste Beispiel für einen Personalentwickler, der etwas bewegt. Er hat eine extrem hohe intrinsische Motivation und setzt Dinge eigenständig um. Er macht Dinge besonders gut, die er gerne tut und an denen er Interesse hat …

Personalmagazin: … und macht seine Arbeit häufig über soziale Medien transparent. In der New-Work-Szene ist er für viele deshalb ein Vorbild. Nervt es nicht, dass er so viele Dinge postet, die nicht immer mit der Pressestelle abgestimmt sind?

Reinhart: Ganz im Gegenteil, ich freue mich immer darüber, wenn ich etwas von ihm lese. Da kann ich nur sagen: "Super, weiter so!". Er lebt das Thema Selbstbestimmung. Solange es um das Unternehmenswohl geht, kann man bei Continental richtig Gas geben. Wir haben neben Harald viele andere Mitarbeiter, die Vorbilder in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, aber in der Öffentlichkeit nicht so präsent sind.

Personalmagazin: Harald Schirmer wird von vielen als ein "Organisationsrebell" wahrgenommen, der Hierarchien und tradierte Strukturen infrage stellt. 

Reinhart: Ich erlebe Harald als jemanden, der von seiner Sache überzeugt ist, dafür kämpft und nicht aufgibt. Er entfaltet viel Kraft, um andere zu überzeugen und Dinge nach vorne zu bringen. Für mich ist er aber keinesfalls ein Rebell oder jemand, der die Hierarchie im Unternehmen grundsätzlich infrage stellt.  

Personalmagazin: Herr Schirmer, woher kommt Ihr Ruf als Rebell?

Schirmer: Früher habe ich Führungskräfte und Mitarbeiter mit meinen Anfragen gelegentlich vor den Kopf gestoßen. Ich habe zum Beispiel so Sätze gesagt wie "E-mail is where knowledge goes to die". Das ist natürlich eine provokante Aussage, die Führungskräfte zum Nachdenken bringen sollte. Nicht bedacht hatte ich, dass die Kollegen, die Mailserver warten, dadurch ihre Arbeitsplätze in Gefahr sahen - was gar nicht der Fall war. Ich hinterfrage auch heute Regeln auf ihre Sinnhaftigkeit, aber ich bin mir stärker bewusst, dass ich nicht als Bulldozer durch die Organisation laufen kann, wenn ich etwas bewegen will. Ich muss Leute für neue Ideen gewinnen und auf meine Seite bringen. Mit dem Ansatz "Altes zerstören, um Neuem Platz zu machen" erzeugt man nur Widerstand und baut kein Vertrauen auf. 

Reinhart: Ich kann das bestätigen. Harsche Kritik erzeugt oft Widerstand. Ob man gehört wird, hängt viel davon ab, wie man die Kritik äußert. Darüber haben wir uns viel unterhalten und Du hast wirklich viel dazugelernt.

Click to tweet

personalmagazin: Rebellen sind gerade in vielen Unternehmen gefragt, weil man sich von ihnen mehr disruptive Innovationen erhofft – Neues durch Zerstörung, wie das Schumpeter beschrieben hat. Wie fördert Continental internes Unternehmertum?

Reinhart: Natürlich haben wir für unsere Mitarbeiter ein eigenes Start-up-Programm, wo in Inkubatoren neue Geschäftsideen entstehen – das erste Spin-off wurde bereits gegründet. Wir sehen Innovation keinesfalls als Zerstörung, nicht in der Radikalität. Wir setzen mehr auf iterative Prozesse. Oft habe ich eine Idee im Kopf und wir setzen uns zusammen und in gemeinsamen Diskussionen entsteht etwas Neues. Das ist für mich ein Innovationsprozess. Und wir haben den Anspruch, in HR genauso innovativ zu sein wie in der Forschung und Entwicklung.  

Schirmer: Unser Innovationsprozess ist mehr wie beim Reiten das Zügel aus der Hand kauen lassen: Damit das Pferd am Ende frei am langen Zügel läuft, verlängern Sie die Zügel je nach Gegendruck des Pferdes kontinuierlich und so dehnt es sich langsam an die neue Freiheit heran. Sie werfen die Zügel nicht einfach hin.

Reinhart: Ein sehr treffendes Bild, zumindest für uns als Reiter. Wenn man hartnäckig dranbleibt, ändern sich die Dinge Stück für Stück. 

Innovationsprojekte managen, ohne zu kontrollieren

Personalmagazin: In vielen Unternehmen werden den Initiatoren von Innovationsprojekten gern mal die Zügel aus der Hand genommen: Das Management platziert vielversprechende Ansätze anderswo und die Mitarbeiter dürfen ihre Ideen nicht selbst weiterführen. Wie ist das bei Ihnen?

Reinhart: Wir haben flache Hierarchien und ich würde nie auf die Idee kommen, eine Initiative von Harald jemand anderem zu geben. Wir haben gerade eine Software Academy gegründet, um Softwarekompetenzen, die wir bei den Themen künstliche Intelligenz und Cyber Security brauchen, gezielt aufzubauen. Dazu haben wir weltweit Input bekommen und der Kopf der Academy sitzt in Indien, nicht hier bei uns in der Zentrale.

Schirmer: Das Ownership sollte man bei den Leuten belassen, die die Initiative angestoßen haben. Wer Innovationen fördern möchte, muss Unternehmertum belohnen. Nur dann finden sich immer mehr Leute, die mitmachen. Man sieht das auch bei Firmen, die Start-ups einkaufen: Da sind die am erfolgreichsten, die den Gründer mit drin behalten. 

Personalmagazin: Harald Schirmer hat mal gesagt: "Die einen halten sich an Regeln, die anderen machen einfach". Wenn keiner mehr um Erlaubnis fragt, kann das schnell im Chaos enden. Wie kann man das Risiko von Regelbruch im Zaum halten?

Reinhart: Bei uns muss man nicht ständig um Erlaubnis fragen. Ich würde das auch etwas komisch finden. Die Mitarbeiter wissen am besten, was sie machen müssen, um ihre Projekte ins Ziel zu bringen. Deswegen frage ich auch nie, wo sie sind. Ich hatte mal einen Chef, der mich, wenn er mich angerufen hat, immer zuerst gefragt hat, wobei er mich stört. Da wusste ich, er möchte mich kontrollieren. So etwas gibt es bei Continental nicht. Natürlich haben wir entsprechende Strukturen, die wir einhalten. Die Freiheiten dürfen niemals auf Kosten der Sicherheit oder der Compliance gehen. 


Dieses Doppelinterview ist Teil des Schwerpunkts zum Thema Organisationsrebellen. Das ungekürzte Gespräch ist im Personalmagazin 01/2019 erschienen und ist auch in der Personalmagazin-App verfügbar.


Das könnte Sie auch interessieren:

Interview mit Prof. Jan U.Hagen: "Scheitern ist nur okay,  wenn ich daraus lerne"

Angst vor Fehlern ist weit verbreitet

Anleitung zum gescheiten Scheitern


Schlagworte zum Thema:  Innovation, New Work