"Wir brauchen ein neues Denken"
Haufe Online-Redaktion: Lassen Sie mich mit einer persönlichen Frage einsteigen. Als junger Mann haben Sie BWL studiert, um - so vermute ich - Karriere und Geld zu machen. Wollten Sie auch Chef werden?
Hermann Arnold: Als ich 16 Jahre alt war, habe ich angefangen, mich für Wirtschaft zu interessieren. Der US-Manager Lee Iacocca hat mich fasziniert. Er hat den Autokonzern Chrysler übernommen, als dieser in Schwierigkeiten war, und einen Turnaround geschafft. Er hat etwas, das nicht mehr funktioniert hat, wieder zum Fliegen gebracht. Für mich kam ein zweiter Punkt hinzu. Der ältere Bruder meines Freundes wollte an der Universität St. Gallen studieren und hat den Aufnahmetest nicht geschafft. Mich hat die Herausforderung gereizt, dort reinzukommen, wo es offensichtlich schwierig ist reinzukommen. Das waren die Gründe, warum ich angefangen habe, in St. Gallen Betriebswirtschaft zu studieren. Eine Karriereleiter hatte ich nicht vor Augen.
Haufe Online-Redaktion: In St. Gallen studieren viele Leute mit dem Ziel, in der Wirtschaft Karriere zu machen. Kam das bei Ihnen später?
Arnold: Ich hatte immer das Ziel, etwas zu bewegen, also einen großen Hebel zu haben, Dinge voranzubringen. Im klassischen Sinne Karriere zu machen, war weniger mein Anspruch. Ich erinnere mich an eine Gruppenarbeit im ersten Semester, bei der jeder sagen musste, was sein Ziel sei. Ein Kommilitone sagte, dass er in eine Situation kommen möchte, in der er 30.000 Leute entlässt. Das fand ich pervers.
Haufe Online-Redaktion: Um etwas bewegen zu können, braucht man eine exponierte Position. Das hat doch etwas mit Karriere zu tun?
Arnold: Da stimme ich zu. Aber es war eben nicht das Streben nach formeller Macht. Vielmehr möchte ich einen Beitrag dazu leisten, für möglichst viele Menschen die Welt etwas besser zu machen – in dem Rahmen, in dem ich wirke. Nach dieser Decke strecke ich mich.
Haufe Online-Redaktion: Ihr neues Buch mit dem Titel "Wir sind Chef" ist ein Plädoyer für mehr Beteiligung der Mitarbeiter. Das Spannende ist, dass Sie diese These nicht als Gewerkschaftsführer vertreten, sondern als Unternehmer. Was ist der Kern Ihrer Botschaft?
Arnold: Meine Beobachtung ist, dass viele Führungskräfte damit ringen und teilweise auch darunter leiden, was heute als Chef von ihnen erwartet wird. Sie können die Erwartungen nicht erfüllen, die sie an sich selbst und die ihre Vorgesetzten oder Mitarbeiter an sie stellen. Die Führungskräfte erleben das als Überforderung.
Wenn wir uns vor Augen führen, was Chefs leisten müssen, dann bin ich nicht sicher, ob jeder Chef sein will.
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Ursprünglich sollte das Buch "Die Entzauberung des Chefs" heißen. Ich wollte damit ausdrücken, dass wir den Zauber von der Chefrolle wegnehmen und die Aufgaben auf mehrere Schultern verteilen sollten. Doch der Begriff Entzauberung kann in dem Sinne missverstanden werden, dass man keine Chefs mehr braucht. Mir ist bewusst, dass der Titel wie der Schlachtruf von Gewerkschaftlern klingt, die fordern, auch oben zu sitzen. Wenn wir uns aber genau vor Augen führen, was Chefs heute leisten müssen, dann bin ich nicht sicher, ob wirklich jeder Chef sein will.
Haufe Online-Redaktion: Was ist mit der Chefrolle heutzutage verbunden?
Arnold: Denken Sie an eine alltägliche Situation: Ich sitze neben einem Kollegen, der keine gute Leistung bringt, und rege ich mich darüber auf, weil das meine eigene Arbeit beeinflusst.
Unangenehme Aufgaben delegieren wir an den Chef.
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Im nächsten Schritt rege ich mich über meinen Chef auf, weil der nichts tut, um das zu ändern. Diese Situation zeigt: Unangenehme Aufgaben delegieren wir an den Chef. Es kommt niemand auf die Idee, selbst zum Kollegen zu sagen, dass er einen besseren Job machen soll.
Haufe Online-Redaktion: Der Kollege würde das vermutlich auch als Anmaßung empfinden und sagen: Was geht Dich das an!
Arnold: Wir brauchen ein neues Denken, um die Situation aufzulösen. Wenn ich zu mir selbst ehrlich bin, dann merke ich, dass auch ich Arbeitstage habe, an denen ich nicht so gut bin. Wenn dann jemand zu mir käme und sagen würde: "Du, Herrmann, das kannst Du eigentlich besser!" Dann würde ich sagen: "Stimmt!" In meinem Buch plädiere ich dafür, die Chefaufgaben auf viele Schultern zu verteilen: Einstellungen, Planung, aber auch Entlassungen oder Konfliktregelung.
Ich plädiere dafür, die Chefaufgaben wie Einstellungen oder Entlassungen auf viele Schultern zu verteilen.
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Haufe Online-Redaktion: Führt das nicht zu einer totalen Vermischung von Verantwortlichkeiten und Rollen?
Arnold: Als ich mit dem Illustrator des Buchs über die Inhalte sprach, war das seine erste Reaktion: Jetzt kommt die nächste Stufe des Kapitalismus. Jetzt müssen sich die Mitarbeiter auch noch selbst ausbeuten. Es reicht offenbar nicht, dass die Mitarbeiter hart arbeiten, sie müssen sich in Zukunft auch die Peitschenhiebe selbst geben. Das ist das Gegenteil von Ihrer Vorstellung, dass "Wir sind Chef" als Kampfruf einer Gewerkschaft verstanden werden könnte. Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte.
Haufe Online-Redaktion: Das Thema Beteiligungskultur ist nicht neu. Professor Martin Hilb von der Universität St. Gallen hat in seinem Buch "Integriertes Personalmanagement" dafür den Begriff des Vorgenetzten geprägt. (Anm. d. R.: "Vorgenetzte statt Vorgesetzte" in: M. Hilb: Integriertes Personal-Management, Köln 2011) Mit diesen Gedanken hat er Tausende Manager ausgebildet. Trotzdem ist das Thema in der Wirtschaft nicht vorangekommen. Warum?
Arnold: Wenn ich mir die richtig großen Unternehmen von innen anschaue, dann finde ich dort viele Inseln von Teams, in denen der Vorgesetzte nicht den klassischen Napoleon spielt. Er agiert in der Rolle des Vorgesetzten oder wie auch immer man es nennen will. Aber wenn man von außen auf diese Unternehmen schaut, dann sind das hierarchische Gebilde, die mit Weisung-und-Kontroll-Strukturen geführt werden.
Wenn ich Führungskräften erzähle, dass bei uns die Mitarbeiter ihre Kollegen einstellen, gibt es immer Stirnrunzeln.
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Wenn ich den obersten Führungskräften dann erzähle, dass bei uns die Mitarbeiter ihre Kollegen einstellen, kommt es immer zu großen Stirnrunzeln. Das passt nicht zum Selbstbild der Chefs. Obwohl manche Unternehmen beispielsweise Schnuppertage haben, an denen die Bewerber mitarbeiten. Der Vorgesetzte fragt die Teams dann, ob der Kandidat für die Aufgabe geeignet ist. Das letzte Wort scheint aber der Chef zu haben.
Haufe Online-Redaktion: In Ihrem Modell werden Führungsaufgaben im Team verteilt. Haben wir in den Vorständen nicht schon so eine Arbeitsteilung, bei der einer für Finanzen, ein anderer für die IT zuständig ist?
Arnold: In den Vorständen sind die Zuständigkeiten nach Themen verteilt, aber nicht unbedingt die Kompetenzen. Wenn es zum Beispiel einen Konflikt gibt zwischen Finanzen und Marketing, muss das der CEO lösen. Der CEO hat den Vorstand zu führen, das ist die gängige Auffassung. Nach meiner Vorstellung könnte man das im Vorstand auch anders regeln. Vielleicht kann der USA-Chef besonders gut Konflikte lösen, dann wäre es seine Aufgabe. Wenn der COO gut in Strategiefragen ist, kann er strategische Prozesse steuern. Das muss nicht unbedingt der CEO machen. Aufgaben, die klassisch beim CEO liegen, können entlang der Kompetenzen unter den Vorstandsmitgliedern verteilt werden.
Haufe Online-Redaktion: Wie weit geht für Sie die Beteiligungskultur? Ein Beispiel: Im Kundenservice muss der Chef sicherstellen, dass die Kunden auch am Wochenende betreut werden. Alle Mitarbeiter bringen ihre Wünsche ein, aber tendenziell sind immer die Wochenenden das Problem. In diesem Fall muss doch der Chef entscheiden, wie das gelöst wird, oder?
Arnold: Die Selbstorganisation des Teams ist meiner Meinung nach ein ebenso guter wenn nicht sogar besserer Weg. Ein anschauliches Beispiel ist für mich der Verkehr. Ich kann mit meinem Auto fahren, wann ich will und wohin ich will, ohne dass mir ein Chef vorgibt, was ich zu tun habe. Es gibt klare Regeln, an die sich alle halten müssen. Es braucht auch eine gute Infrastruktur, ohne die der Verkehr nicht funktioniert. Wir brauchen Ampeln, Zebrastreifen, Kreisverkehre und so weiter. Und drittens gibt es Kompetenzen im Sinne von Können und Dürfen. Jeder muss die Regeln lernen und jeder braucht Übung.
Die Selbstorganisation des Teams ist meiner Meinung nach ein ebenso guter wenn nicht sogar besserer Weg.
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Haufe Online-Redaktion: Aber der Verkehr ist doch auch ein Beispiel dafür, dass nur die Androhung von drakonischen Strafen, zum Beispiel was Alkohol, Geschwindigkeit oder Gurtpflicht angeht, dazu geführt hat, dass die Zahl der Verkehrstoten drastisch zurückging.
Arnold: Ich stimme Ihnen zu, dass negatives Verhalten mit Konsequenzen verbunden sein muss, sonst funktionieren die Regeln der Kooperation nicht. Wichtiger aber ist, dass man Transparenz herstellt. Wenn den Fahrern über Tafeln angezeigt wird, dass sie zu schnell fahren, dann hat das einen positiven Effekt auf das Fahrverhalten. Obwohl ich diese Information bereits auf dem Tacho sehe, hat die zusätzliche Tafel einen Effekt, der mir hilft, mein Fahrverhalten anzupassen. Übertragen auf das Thema der Wochenendarbeit heißt das, dass im Team transparent gemacht wird, wer wie oft am Wochenende arbeitet. Das führt dazu, dass die Teammitglieder die Einsatzzeiten gerecht verteilen. Zusätzlich kann man dann noch einen Ausgleich über das Gehalt schaffen für die Zusatzbelastung am Wochenende. Das muss wahrscheinlich spürbar über die gesetzlichen Wochenendzulagen hinausgehen. Und die Mitarbeiter, die weniger Wochenendarbeit leisten wollen, müssten dies mit einem Teil ihres Lohnes ausgleichen.
Haufe Online-Redaktion: Ein zweites Beispiel für die Beteiligungskultur. Im Rahmen einer Umstrukturierung müssen Teams neu zusammengestellt werden. In den meisten Fällen regeln das die Chefs.
Arnold: Wir hatten bei uns im Unternehmen eine solche Situation und haben den Leuten gesagt, dass sich jeder dem Team zuordnen soll, in dem er den größten Beitrag leisten kann, also nicht, wo er am liebsten arbeiten will. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke, was dann passiert ist. Es sind genau die Leute, die wir per Anordnung wieder in die alten Teams zurückschicken hätten müssen, freiwillig dorthin gegangen.
Durch die Freiwilligkeit der Regelung sind alle als Helden in die alten Teams zurückgekehrt.
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Wenn wir gesagt hätten, du musst das machen, hätten die Leute gesagt: "Spinnt ihr eigentlich, ihr nehmt mir meine Arbeitsmarktfähigkeit." Durch die Freiwilligkeit der Regelung sind sie als Helden in die alten Teams zurückgekehrt. Jeder hat gewusst, die machen das freiwillig. Das hat Energien frei gesetzt.
Haufe Online-Redaktion: Wenn die Firma einen Betriebsteil stilllegen muss, hört die Beteiligung auf. Das ist eine typische Entscheidung des Top-Managements.
Arnold: Das sehe ich nicht so. Verkauf oder Stilllegung von Betriebsteilen kosten die Firma ja sehr viel Geld. Ich war bis jetzt noch nie in so einer solchen Situation. Ich bin aber der Überzeugung, wenn man die Mitarbeiter stark beteiligt, dann kommt man vielleicht weniger häufig in solche Situationen, weil man das Geschäft und die Strukturen laufend anpasst. Und außerdem bekommt man über eine Beteiligung möglicherweise Ideen, welche anderen Wege das Unternehmen einschlagen könnte.
Haufe Online-Redaktion: Ihre Vision klingt sehr sympathisch. Braucht man für die Umsetzung nicht eine besondere Art von Menschen?
Arnold: Selbstorganisation hat mit nichts mit guten Menschen zu tun. Sie ist teilweise recht darwinistisch. Es gibt keine fürsorgliche Führung, wie sie heute in vielen Unternehmen praktiziert wird. Ein Beispiel: Wenn ich zwei Bäcker im Ort habe, dann gehe ich zu dem, der die besseren Brötchen macht.
Wir brauchen für die Selbstorganisation keinen besonderen Menschentypus, aber eine Reife in der Unternehmenskultur.
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Übertragen auf die Unternehmen heißt das: Ich habe keine Skrupel, dem, der gute Leistung bringt, deutlich mehr Lohn zu bezahlen. Den anderen bestrafe ich mit Kündigung oder Lohnkürzung. Dieses Verhalten ist für uns beim Bäcker üblich, im Unternehmen haben wir aber massive Skrupel. Wir brauchen für die Selbstorganisation keinen besonderen Menschentypus, aber eine Reife in der Unternehmenskultur, die das möglich macht.
Haufe Online-Redaktion: Zum Schluss noch eine Frage: Welche Wirkung erhoffen Sie sich von Ihrem Buch?
Arnold: Ich hatte mir mit dem Buch vier Ziele gesetzt. Erstens wollte ich mich mit den Themen auseinandersetzen, die wir bei Haufe-Umantis seit vielen Jahren praktizieren. Das hat dazu geführt, dass ich viele Dinge jetzt in einem größeren Zusammenhang sehe. Zweitens wollte ich in die Organisation hinein wirken und ein gemeinsames Verständnis, von dem, was wir machen, fördern. Das soll Leuten, die neu in die Firma kommen, helfen, sich besser einzufinden. Gerade der Begriff der Demokratie hat bei uns intern Schaden angerichtet, weil jeder glaubt, er kann überall mitreden und muss überall gefragt werden. Aber so funktioniert kein Unternehmen.
Der Begriff Demokratie hat bei uns intern geschadet. Jeder glaubt, er kann überall mitreden. So funktioniert es nicht.
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Drittens will ich Projekten, die wir mit unseren Kunden machen, eine gemeinsame Basis geben. Und viertens möchte ich einen Beitrag leisten, die Arbeitswelt besser zu machen. Zum Buch haben wir deshalb eine Onlineplattform os.haufe.com geschaffen, auf der jeder seine Erfahrungen teilen kann. Ich erwarte mir hier einen regen Austausch und auch neue Ideen.
Das Gespräch führte Reiner Straub, Herausgeber Personalmagazin
Das Buch:
Wir sind Chef. Wie ein unsichtbare Revolution die Unternehmen verändert.
Hermann Arnold, Gründer des Softwareunternehmens Umantis, das mittlerweile zur Haufe-Gruppe gehört, plädiert in seinem Buch "Wir sind Chef" für agile Methoden und Denkweisen in der Führung, erläutert den „Haufe Quadranten“ als Analysetool und zeigt auf, wie Agilität in Command-and-Control-Strukturen implementiert werden kann.
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